Es ist Spätsommer. Das Treffen mit deiner Telefonbekanntschaft Lena steht an. Irgendwie ist es für mich etwas anderes, als deine Sextreffen mit Langzeitbekanntschaft Katja. Die Treffen mit Katja drehen sich hauptsächlich um Essen gehen und den anschließenden Nachtisch. Deine Verbindung zu Lena hingegen ist irgendwie tiefer. Ihr habt euch noch nicht gesehen, telefoniert aber häufiger. Außerdem hast du vor, bei ihr bzw. in einem Hotel in ihrer Nähe zu übernachten, da die Gute doch ca. 2 Stunden entfernt wohnt. Letzte Woche unter der Dusche warst du dir noch unsicher, ob du überhaupt fahren möchtest. Ich hatte dich dazu ermuntert. Nun hast du deine Sachen gepackt und ich ein mulmiges Gefühl.
Die Situation erinnert mich sehr an meine polyamore Beziehung zu Malte und Andrè. Malte sah ich fast täglich. Mit Malte führte ich die klassische „Alltagsbeziehung“. Leidenschaft brach allerdings fast ausschließlich bei den Treffen mit Andre heraus. Auch er wohnt, wie Lena, ein ganzes Stück weit weg.
So bin ich kurz davor dich darum zu bitten, heute nicht zu fahren. Bisher schwafel ich aber nur um den heißen Brei herum. Auch du bist nun verunsichert. Meine Freundin und Arbeitskollegen, die mir gegenüber sitzt, beobachtet den Sturm im Wasserglas. Pragmatisch wie sie ist, beginnt sie die Worte „fahren“ und „nicht fahren“ auf kleine Zettel zu schreiben und diese zu nummerieren. Per Telefon ziehst du eine Nummer und erhältst den Zettel „fahren“. Dir wünscht sie einen tollen Abend und mich ermahnt sie, mich nicht mit sinnbefreiten Orgien – ich hatte mir bereits eine Veranstaltung ausgesucht – abzulenken.
Da ich dennoch nicht zuhause sitzen und malen möchte, schmeiße ich mich zu späteren Stund in Schale. Ich mache mich – mit der Erlaubnis meiner Freundin – auf zu einer Open Air-Cocktailparty in der Innenstadt. Diese wird veranstaltet durch das bereits erwähnte Swingerportal.
Das Publikum dort ist irgendwie eigen. Drei der vier Biertische sind besetzt mit Personen, die die 50 weit überschritten haben. Von diesen Gästen ist zudem entweder die Optik eigenwillig oder der Gesichtsausdruck. Ich setze mich an den „Junge-Leute-Tisch“. Das Durchschnittsalter beträgt ca. 38 Jahre. Neben mir sitzt ein sehr ausladender Mann mit hübschem Gesicht, welcher der jungen Blondine gegenüber gerade die Füße massiert. Gegenüber von mir lächelt mich ein James Dean / Elvis Presley-Double mit tollen Augen, aber schütterem Haar, an. Rockabilly war ja noch nie meins. Aber was solls, nett lächeln tut er ja.
Vertreten sind des Weiteren eine rothaarige Mitdreißigerin in Lederjacke, zwei Durchschnittsehemänner um die 50 und ein volltätowierter Mitzwanziger, mit leicht basedowschen Augen und Ziegenbart. Teilweise kennen sich die aufgezählten Menschen untereinander, nehmen mich aber schnell in ihrer Mitte auf. Die Gespräche sind locker, lustig aber auch tiefgreifend. Überwiegend geht es um den freien Umgang mit Sexualität und die Sicht von monogamen Paaren darauf.
Jeder der am Tisch anwesenden bezeichnet sich als Exot. Von ihrem Umkreis fühlen sie sich zum großen Teil unverstanden. „Ich könnte meiner Freundin nicht sagen, dass ich gestern auf einer reinen Frauenveranstaltung war. Auf dieser haben wir uns erst über Konzerte und Familienplanung unterhalten und uns danach gegenseitig die Muschis geleckt.“, gibt die Blondine schräg von mir zum Besten.
An diesem Tisch sitzt u.a. ein „offenes Ehepaar“, ein klassischer Mingel mit Freunden with Benefits [1]Da ist er, dieser „Herr Mingel“. und ein Hobbyfotograf. Dieser lässt sich bei Sympathie vorrangig in Naturalien bezahlen. 😊 Die Stimmung ist ausgelassen. Ich fühle mich wohl, denke aber zwischendurch trotzdem daran, was du wohl gerade tust. Der Gedanke, dass du heute Nacht nicht nur mit einer anderen Frau schläfst, sondern auch neben ihr (schläfst), behagt mir nicht. Ein verstecktes Loch in meinem Bauch tut sich auf und schreit nach Ablenkung und Abenteuer.
Zwei Stunden später tanze ich mit dem Ehepaar und dem Ziegenbart in einer Rockabilly-Kneipe. Eine halbe Stunde später habe ich ihre Zunge im Hals. Weite 45 Minuten später sitze ich barbusig in Slip zwischen den beiden Männern und sauge der Rothaarigen abwechseln an ihren Nippeln.
Ich befinde mich in einem In-Viertel der Großstadt, in einem Wohnhaus welches früher mal eine Kirche gewesen sein muss. Neben fremden Gliedmaßen habe ich daher nun auch ein buntes Kirchenfenster im Blick.
Die Wohnung ist ein Traum. Sie ist aufgeteilt auf zwei Etagen mit Shaby chick-Möbeln in der Küche und einem großen Schnörkelbett im Schlafzimmer. Wir wechseln vom Wohnzimmer in das Schlafzimmer und berühren uns alle gegenseitig. Dann beginnt der Ziegenbart die Rothaarige zu lecken, während James Dean sich auf mich konzentriert. Er bewegt sich sanft aber leise. Das ganze Geschehen ist nicht sonderlich laut. Es hat vielleicht etwas mit der Kirche zu tun. Nachdem auch die Rothaarige und ich uns ausgiebig erkundet haben, wechsle ich zum Ziegenbart.
Das Erlebnis ist aufregend. Ganz fallen lassen kann ich mich allerdings nicht. Naja ist vielleicht auch nicht ganz unverständlich. Immerhin sitze ich mit drei, mir fremden Menschen, nackt in einer umgebauten Kirche, während du die Nacht mit Lena verbringst.
Das Licht geht an. Wir sind alle vier tätowiert und zeigen uns nun untereinander unsere Kunstwerke. Dann schwenkt das Gesprächsthema irgendwie auf „Kinder“ um. Mir sieht man meine Schwangerschaft noch nicht an, deswegen habe ich sie auch nicht erwähnt. Ein nicht uncleverer Schachzug, wie sich herausstellt. James Dean, der übrigens Sozialarbeiter von Beruf ist, beginnt nämlich einen Monolog darüber zu halten, warum er keine Kinder mag und Menschen sich eigentlich auch nicht fortpflanzen sollten. Sympathisch! Als ich mich anziehe, schiebe ich meinen Mutterpass noch etwas tiefer in die Tasche.
Ziegenbart und ich verlassen zeitgleich die Wohnung. Noch im Hausflur erzähle ich ihm von meiner Schwangerschaft. Er freut sich für mich / uns und fragt dann, ob ich die Nacht heute bei ihm verbringen möchte. Ich lehne dankend ab, tausche allerdings Nummern mit ihm aus.
Als ich nach Hause fahre, ist das Loch im Bauch wieder spürbar. Ich habe zwar keine Probleme mit anderen Menschen Sex zu haben, doch ist das nächtliche Anschmiegen irgendwie etwas anderes. Dies wird mir gerade bewusst.
Zuhause angekommen schlafe ich mit der Katze auf dem Bauch auf meiner Couch ein. Morgens schaue ich auf mein Handy. Vielleicht hast du ja schon geschrieben – nichts. Ich frühstücke. Blick aufs Handy. Duschen. Blick aufs Handy. Anziehen. Blick aufs Handy. Ich hole Stifte und Leinwände aus den Schränken. Blick aufs Handy usw. Um 13:00 Uhr kommt eine Nachricht von dir. Du wärst noch bei Lena. Ihr habt eine gute Zeit. Gerade denkst du an mich. Lieb grüßen sollst du auch. Von einer baldigen Rückfahrt steht da nichts.
Mein Magen rumort. Ich fühle mich gerade zurückversetzt in meine Zeit mit den beiden Männern. Gerade habe ich nur das Gefühl, jetzt Maltes Rolle einzunehmen. Mit ihm habe ich viel Zeit verbracht. Wir haben gekocht, Veranstaltungen besucht und waren gemeinsam bei den jeweiligen Eltern. Der Sex war schnörkellos. Ich fühlte mich wohl, aber richtige Leidenschaft hatte ich, wie ich mir später gestand, nur André gegenüber. Wir sahen uns seltener, telefonierten jedoch fast täglich. Wenn wir uns für ein Wochenende trafen, brach jenes, sonst so versteckte Feuer aus uns heraus. Wir vögelten viel, saßen im Bett, aßen Pizza und erzählten uns, was wir sonst niemandem anvertrauten.
Der Versuch, meine Gefühle auf beide Männer gleichwertig zu verteilen, ist voll und ganz gescheitert. Der Gedanke, dass dies bei dir nun genauso sein könnte überfordert mich. Auch wird mir bewusst, wie weh ich Malte unbewusst getan haben muss. Ich laufe zerstreut durch die Wohnung und antworte dir auf deine Nachricht erst einige Minuten später. Ich deute an dass auch ich gestern intensive Stunden hatte, nun Zeit für mich brauche und das Handy erstmal weglege. Ich male, klebe und sprühe wild drauf los.
Eine von dir, sich etwas verwirrt anhörende, Sprachnachricht höre ich erst am Abend ab. Mittlerweile bist du zurück in der Einliegerwohnung deiner Eltern. Ich versuche mehr Fröhlichkeit in die Konversation zu bringen, sage allerdings, dass ich meine Zeit brauche.
Du antwortest nächsten Morgen auf meine Sprachnachricht, allerdings etwas besorgt. Es beginnt wie üblich ein Sprachnachrichtendiolog mit dem Charme von Bandsalat. An dessen Ende stehst du unverhofft vor meiner Tür. Wir umarmen uns, bleiben ein paar Minuten reglos stehen und reden dann in Ruhe. Ich erzähle dir von meiner Gefühlswelt. Du versuchst mir zu vermitteln, wie wichtig ich dir bin. Ich solle keine Parallelen zwischen meiner Verbindung zu André und deiner gestrigen Nacht mit Lena ziehen. Wir entspannen uns, schmiegen uns aneinander und ich bitte dich, mir von den letzten zwei Tagen zu erzählen – inklusive Einzelheiten.
Ich finde es erregend, gleichzeitig bin ich jedoch von der Tiefe eurer Gespräche und der rüberkommenden Leidenschaft verunsichert. Langsam baut sich erneut eine Bandsalatkommunikation zwischen uns auf, in der ich hinterfrage und du rechtfertigst. Nebenbei erzählst du dann, dass Lena auch nach der Kissenschlacht kuscheln und Händchen halten wollte. Du seist aber nicht darauf eingegangen.
Ich möchte dir glauben, dass es nur Sex ist. Dennoch bin ich geprägt durch meine eigenen Fehler / Taten der Vergangenheit. Ich befürchte, dass du wie ich damals den Fokus verlieren könntest. Weiter kommen wir so nicht. Der Kopf brummt. Du ziehst dich an und ich weine. Als ich mich nach ein paar Sekunden beruhigt habe, gehe ich auf den Balkon. Ich rufe dir nach. Du drehst dich theatralisch um und sagst: „Du wirst deinen Weg machen“. Was für ein Blödsinn! Ich bitte dich wieder hoch zu kommen. Du setzt dich auf meine Couch. Ich drücke dir ein Bier in die Hand, und auf deine Bitte hin, noch eine Kopfschmerztablette.
Anders als gedacht, schlafen wir diese Nacht recht friedlich nebeneinander. Ich habe dennoch einen eher merkwürdigen Traum. Ich träume davon, dass du und ich eine Garage besitzen auf welche du einen Zementlöwen setzen möchtest. Das Konstrukt hält nur spärlich. Wir versuchen es mit den Händen zu stützen.
Am nächsten Tag reichen wir beide spontan Homeoffice ein, arbeiten, genießen jedoch die Anwesenheit des anderen. Die Stimmung löst sich. Doch ganz komme ich von dem Thema nicht los. Auch dir merke ich eine gewisse Anspannung z.T. während unseres Liebesspiels an.
Wie geht man mit Menschen um, die von einem vielleicht mehr wollen als nur Sex? Ich hole mir einen Rat und telefoniere mit André, zu dem ich noch eine enge freundschaftliche Beziehung pflege. Er rät mir, Lena kennen zu lernen und so die Situation zu entwirren. Dann verabreden er und ich uns für einen der folgenden Tage zum Telefonsex. An besagtem Tag bin ich noch im Büro als er anruft. Er bleibt am Telefon bis ich dieses verlassen habe, begleitet mich zum Einkaufen, bis zu meiner Wohnung, zurück zum Büro, weil ich den Schlüssel dort vergessen habe und hinab in den Waschkeller. Wir telefonieren humorvoll, bis ich die Wäsche aus dem Keller nach oben trage und mich nackt ausziehe. Der „Sex“ dauert entsprechend 5 Minuten, aber wir fühlen uns wohl. Ich erzähle dir davon und du lachst.
Vor einigen Wochen ließest du mir von Lena ausrichten, dass sie gerne mal mit mir telefonieren würde. Dieses Angebot nehme ich nun an. Sie hat eine sympathische Stimme und wir telefonieren fast zwei Stunden. Sie erzählt von ihrer Ehe mit einem Asperger, Männern parallel dazu und der Verbindung zu dir. Aus ihren Erzählungen höre ich klar raus, dass sie ein sehr gefühlvoller Mensch ist. Die gefühlsmäßigen Defizite durch ihren Partner[2]Er ist viel unterwegs und kann Gefühle durch seine leichte Form des Autismus nur schwer zeigen. gleicht sie mit anderen Männern nebenbei aus. Für mich hört sich dies nach Parallelbeziehungen an. Es geht ihr demnach um viel mehr als nur Sex. Dich würde sie gerne zeitnah wiedersehen. Auch du möchtest es nicht nur bei einem Treffen belassen.
Es ist eine Situation, die mich in Hinblick auf unser Konzept an meine Grenze bringt. Ich möchte dich auf keinen Fall einschränken, will mich durch die eure Verbindung aber auch nicht geißeln.
Auch mit meinem Verhaltenstherapeuten, der eigentlich für meine Hyperaktivität zuständig ist, und mir heute wegen eines eingewachsenen Zehnagels in Strumpfsocken die Tür öffnet, rede ich darüber. „Wenn man eine offene Beziehung führt, dann bringt dies eine gewisse Komplexität mit sich“, sagt er. An entstehende Gefühle und Eigendynamik durch Dritte, müsse ich mich auf Dauer gewöhnen.
Du und ich reden offen darüber. Ich gebe zu, dass ich für Personen wie Lena noch nicht bereit bin. Ich erschaffe den Begriff „Komplexmensch“ – Menschen, die mehr Anspruch an einen erheben, ggf. sogar als gleichberechtigte Partner behandelt werden und damit das offene Konzept zusätzlich komplex und kompliziert gestalten.
Dir haben die zwei Tage mit Lena gefallen, doch wichtiger als ich ist sie dir nicht. Ich glaube dir, dass du kein Problem damit hast dich erstmal nicht weiter mit ihr zu treffen. Den Kontakt locker per Telefon und Whatsapp halten, würde dir genügen. Einen Tag später schreibe ich ihr mein lieb gemeintes „Veto“. Sie ist irritiert und bittet mit den Worten: „ich glaube wir haben Gesprächsbedarf“ um ein Telefonat. Ich finde sie nicht unsympathisch, dennoch geht es mir hier zu weit. Ich möchte nicht über meine Beziehung zu dir diskutieren. Ich bitte dich dies, mit ihr zu klären. Auch du erkennst nun, wie verworren die Sache geworden ist. Du redest mit ihr.
Du und ich wollen unsere Kontakte mit anderen erstmal auf leichtere Sexverbindungen, wie die mit Katja, beschränken. Wenn wir uns nach Jahren besser kennen, können auch diese Bedürfnisse anders aussehen.
Die Anfrage von André nach einem baldigen Treffen – er wäre in kürze in der Nähe – lehne ich aus diesem Grund ab. Er versteht uns.
Ich schreibe meinen Text über diese Situation, jetzt im Nachhinein. Ich bin stolz darauf, wie gut wir diese, welche über einige Wochen ging, entwirrt haben. Wir haben beide gelernt, vor allem wie komplex eine Beziehung sein kann, wenn sie auch für andere Protagonisten offen ist. Uns hat es näher zusammengebracht und ich bin gespannt auf alles, was da noch so auf uns zu kommt.