Generation Goldzunge – Über Kommunikation, Ehrlichkeit und Bandsalat (Sommer / Herbst 2020)

Diesmal geht es um keine konkrete Begegnung, sondern um ein ganz allgemeines Thema. Schon zu Beginn des Blogs wollte ich gerne über das Thema „reden“ schreiben.[1] hört sich irgendwie ulkig an Wieviel sollte man reden, über was und mit wem? Ich habe mir zwar die ein oder andere Notiz gemacht, doch wirklich weit gekommen bin ich nicht. Geboren wird ein Text vor allem immer dann, wenn etwas reflektiert werden muss / will / sollte. Dann wenn ich nachdenklich, aufgekratzt, verwirrt, traurig oder aufgebracht bin. Wenn es gut läuft, rede ich auf diesem Weg zuerst mit mir selber, bevor ich meine Umwelt mit meinen konfusen Gedanken behellige. Das klappt…in den seltensten Fällen. Die Idee finde ich aber nach wie vor gut.

Der Auslöser zu diesem Text, liegt diesmal in einem Telefonat mit meiner Mutter. Eigentlich ging es um das Treffen am kommenden Wochenende. Meine Eltern wohnen knapp 1,5 Stunden von uns entfernt. Ursprünglich wollten wir mit Kind, Kegel, Kegelbahn und allem, was sonst noch so zu einer frisch gebackenen Familie mit Säugling gehört, auf die andere Seite der Großstadt fahren. Nun, ein paar Tage vorher, wird mir erneut bewusst, was für ein Aufwand das für uns eigentlich bedeutet. Sachen zusammenpacken, Sachen ins Auto laden, Sachen ins Haus meiner Eltern bringen, Sachen zur Rückfahrt in unser Auto packen, Sachen wieder in den dritten Stock schleppen. So mache ich meiner Mutter den Vorschlag, sie können ja – wie sie es bereits vor einem Monat gemacht hätten – zu uns fahren und mit uns einen Spaziergang, mit anschließendem Picknick in der Natur machen. Ich mochte meine Idee. Meine Mutter hingegen so ganz und gar nicht. Es ginge ihr nicht gut, sie habe schließlich schon seit Monaten Probleme mit den Knochen. Sie könne kaum laufen, geschweige denn Ewigkeiten im Auto sitzen. Ich bin von dieser Aussage zunächst verwirrt, dann etwas aufgebracht. Natürlich meine Mutter ist keine 29 mehr, aber davon, dass sie Probleme mit den Knochen habe, wusste ich nichts. Als ich ihr dies auch so sage, bekomme ich als Antwort: „Ich kann doch nicht die ganze Zeit sagen, wie es mir geht. Darüber spricht man nicht. Das interessiert auch keinen“. Eine Aussage, die mich zum Grübeln bringt. Warum sagt man nicht ehrlich, wie es einem geht und warum gibt es überhaupt Themen, über die man nicht spricht? Klar wird es anstrengend, wenn man 24/7 über sein Wehleiden klagt, aber dafür dann überhaupt nicht in sich blicken lassen? Ist es nicht auch einfacher für die Person gegenüber, wenn diese weiß was in einem vorgeht? Oder macht es vieles einfach nur kompliziert?

Manchmal habe ich das Gefühl, Kommunikation und Offenheit hat auch mit der Generation zu tun. Während der Trend immer mehr zu redelastigen Medien wie Podcasts und Live & healthy Coaches geht, gehören meine Eltern noch zur Sportschau- und Hitparaden-Generation, die abends hauptsächlich schweigend nebeneinander sitzt und fernsieht. Den Satz „aber erzähl das nicht deiner Mutter / erzähl das nicht deinem Vater“ selbst wenn es um Kleinigkeiten geht, höre ich heute noch. Die Welt wird nach und nach ein wenig offener und redseliger. Mir begegnen immer häufiger Personen, die keinen Fernseher mehr haben. Anstatt dem fernen Hollywood-star in der Glotze zu folgen, hört man nun den Podcast vom Nachbarn, oder nimmt selber einen auf.

Trotzdem glaube ich, dass Menschen die ganz klar sagen, was sie wollen und was emotional in ihnen vorgeht, häufig noch Randerscheinungen oder Randgruppen sind. Vielleicht ist es auch einfacher, ehrlich zu Menschen zu sein, die man nicht kennt und die einem vielleicht nur über das Internet sehen und hören, als zu den Menschen, die einem wichtig sind, oder zu denen, die einem täglich begegnen. Wer antwortet auf die Frage „wie geht es dir?“ beispielsweise vom Arbeitskollegen, mit mehr als „gut“, wenn die ehrliche Beantwortung so viel komplexer wäre? Will man die Antwort überhaupt hören? Landen wir vielleicht irgendwann in einer Zeit, in der wir dem Chef auf die Frage „Wie war das Wochenende“ ehrlich antworten:

„Mega, mein Partner und ich waren am Wochenende auf einer Gangbang-Veranstaltung.“

oder

„Geht so, ich habe eigentlich niemanden mit dem ich was unternehmen kann. Haben Sie am nächsten Wochenende Zeit?“

oder

„Beschissen, ich gehe seit Wochen meiner Frau aus dem Weg und am Wochenende ist es besonders anstrengend.“

Kommt daher vielleicht das Sprichwort „Reden ist Silber, Schweigen ist Gold“? In meiner letzten Beziehung war ich meinem Partner gegenüber ehrlich und habe von Anfang an kommuniziert, dass Monogamie nicht unbedingt meiner Lebensweise entspricht. Seiner Familie gegenüber habe ich größtenteils geschwiegen. Dies wurde mir zum Verhängnis und die Beziehung zerbrach nach 4,1/2 Jahren stillschweigend. [2]Separater Text „Der Dämon übern Küchentisch“ erscheint am 27.11. Seitdem führe ich ganz offen eine offene Beziehung und trage meine Silberkette mit Stil!

Ich habe das Transparente zu meinem Markenzeichen gemacht und zeige nicht nur dir, Tom ganz offen was in mir vorgeht. Nach Möglichkeit versuche ich mein gesamtes Umfeld, Einblick in meine Gedankenwelt zu geben – natürlich unter Berücksichtigung von Höflichkeit und Feingefühl. So sage ich nicht nur was mich gerade bewegt, sondern halte auch mit Komplimenten [3]die wie ich finde in unserer Gesellschaft viel zu wenig gemacht werden nicht weit hinter dem Berg. Erst kürzlich habe ich einer Frau, mit der ich zufällig per Instagram geschrieben habe, gesagt, dass ich nicht nur ihren Kanal toll, sondern auch sie selber scharf finde. Komplimente [4]wenn sie nicht aufdringlich sind tun jedem gut und haben mehr Macht als wir denken. Fühlen wir uns geschmeichelt, stärkt dies das Selbstbewusstsein und wertet den Tag ein ganzes Stück auf. Komplimente und Wertschätzung sind wie Honig für die Seele. Wir denken sie häufig, sprechen sie aber viel zu selten aus! Das lieber Tom, erinnert mich an die Fleischfachverkäuferin aus dem Supermarkt deines Vertrauens, von der du schon seit langer Zeit immer mal wieder erzählst. [5]Ohrwurm: Helge Schneider – Wurstfachverkäuferin Sie würde dir bestimmt ein Lächeln zurück schenken, oder sich zumindest über deines freuen.

Ganz ähnlich ist es mit konstruktiver Kritik. Aufgestaute Gefühle nach langer Zeit wie eine Bombe platzen zu lassen, geschieht viel eher, als ein lieb gemeintes Wort an Ort und Stelle zu vergeben. Viel zu wenig weisen wir unser Gegenüber charmant darauf hin, dass das was er oder sie gerade tut, vielleicht nicht der beste Weg ist – und das gänzlich ohne Vorwürfe. Dabei können wir doch nur aus unseren „Fehlern“ lernen wenn wir sie kennen. Ich weiß daher die Personen, meine engen Freunde, die mich nicht nur für meine Taten loben, sondern mir auch mal sagen, wenn ich zu sehr über den Rand male, wahnsinnig zu schätzen. Ich mag diese ehrlichen, puren Gespräche, in denen man auch mal einen Fehler zugibt, reflektiert und über sich selber lacht.

Meine Erfahrung mit der Ehrlichkeit: Je mehr man von sich selber preisgibt, desto mehr geben die anderen von sich preis. Gespräche verlassen die Wasseroberfläche, bekommen Tiefgang und Vertrauen baut sich auf. Nicht selten habe ich mir nach nur ein paar Worten gedacht „Warum erzählt er / sie mir nach so kurzer Zeit von Schwächen / Fehltritten/ zwiespältigen Fantasien?“ Naja weil auch ich mich von Beginn an so zeige wie ich bin – ganz unverblümt – einfach ich. In einem Podcast der sich um das Thema „Lebensziele und Erfolg“ dreht, wurde eine „revolutionäre“ Herangehensweise erklärt, wie man handeln solle, wenn einem die richtige, perfekte, vielleicht auch geschönte Formulierung fehlt: SAG EINFACH WIE ES IST! Das ist die einfachste und gleichzeitig schwerste Form der Kommunikation.

Und auch mir fällt es nicht immer leicht Schwächen zu zeigen, zu kommunizieren, dass es mir gerade nicht gut geht, oder ich mit einer Situation so gar nicht klarkomme – etwas für andere logische vielleicht sogar gar nicht verstehe. Doch ich versuche es zu sagen, wenn nicht in dieser dann in der nächsten Minute. Bisher gibt mir das Ergebnis recht. Ich lebe frei meine Sexualität, habe einen Partner mit dem ich Raum, aber auch Freiraum teile und Freunde bei denen ich meine Erlebnisse und Gefühle nicht verschleiern muss [6]Natürlich soll man nicht den Tag vor dem Abend loben – auch mein Leben ist nicht perfekt.

So trifft es sich, dass du dich in der Minute, in der ich diesen Text schreibe, gerade heimlich mit einem verheirateten Mann auf einem Parkplatz triffst. Nicht selten kommt es vor, dass Menschen um andere nicht zu verletzen oder zu verlieren, ein Lügengerüst bauen. So ist es auch bei diesem Herren. Da er seiner Frau nicht sagen kann, dass er sexuell gesehen nicht nur Frauen mag, trifft er sich heimlich, wenn sie fest im Job verhaftet ist, mit den Herrn der Schöpfung. Eine Frau würde er nicht treffen. Das wäre für ihn Betrug. Gegen den Drang parallel einen Mann zu berühren, kommt er jedoch nicht an. Du und er redet lange in seinem Wagen und ich bin fast ein wenig stolz, dass du mir so frei davon erzählen magst und kannst. Für ihn tut es mir leid.

Ich bin ein abscheulicher Lügner. Habe ich in der Vergangenheit auch versucht ein Lügenkonstrukt zu stricken, brach das Gerüst schneller zusammen, als ich es gebaut hatte. Unwahrheiten tun, wenn sie herauskommen, nicht nur dem Belogenen weh. Der, der sich ihrer schmückt, schnürt sich selber die Luft ab. Er bewegt sich unfrei in einem Netz aus Unwahrheiten, findet nur sehr schwer Ruhe und Schlaf und lebt vor allem nicht das Leben, welches er leben möchte. Doch wer ist eigentlich der Schuldige? Der der lügt bzw. verschweigt, oder der, bei dem man nicht die Wahrheit sagen kann? Unverständnis ist das Bett der Lüge, Verständnis hingehen das Fundament der Wahrheit. [7]Toller Satz – Stammt aus meiner Feder Nur der, der einfühlen und verstehen kann, erntet Vertrauen.

Doch warum ist man überhaupt mit einer Person zusammen, der man sich nicht anvertrauen kann? Ich denke die Antwort hierauf liegt zum Teil in veralteten Werten. Diese verleiten den einen oder anderen dazu, den Partner zu ehelichen, bevor man selber weiß wer man ist und was man wirklich möchte. Ein Leben entgegen des Standards zu leben, hat oft mit Mut zu tun und ist ein großer Schritt der Ehrlichkeit. Dennoch ist es wichtig, dass zwei Personen [8]oder ggf. auch mehrere einer Beziehung sich einig sind. Zitat Lisa: „Wenn beide wissen, dass es gelogen ist, ist es doch irgendwie wieder die Wahrheit.“

Du und ich sind uns einig, dass wir eine offene Beziehung führen möchten. Entgegen vieler Meinungen, ist das was diese Form der Beziehung ausmacht, nicht hauptsächlich der Sex mit anderen, sondern das offene Reden miteinander. Wir führen eine „Redebeziehung“ [9]wie dein Vater es nannte, als du deinen Eltern davon erzähltest, sind transparent und frei in unserem handeln. Kann man dem Partner ganz unbefangen davon berichten, dass man mit jemanden anderen geschlafen hat, werden auch unangenehme Themen wie Geld, allgemeine Bedürfnisse und Familie, ganz klein mit Hut. Du und ich kommunizieren ganz klar, was wir gerade fühlen und was wir brauchen. Dennoch sind auch du und ich nicht als „Redemeister“ vom Himmel gefallen. Nicht selten endet ein ausgesprochener (unausgereifter) Gedanke zwar nicht in Streit, jedoch in einem Bandsalatgespräch, bei dem zum Schluss keiner mehr weiß, worum es überhaupt geht, und man stattdessen die Kopfschmerztabletten im Spiegelschrank sucht. Zudem trägt nicht jeder, ehrlich gemeinte, ausgesprochene Gedanke zur Verbesserung einer Situation bei. Vor allem dann nicht, wenn man den Bandsalat im Kopf selber nicht durchblicken kann. So bin ich Meister darin, sofort auszusprechen was ich denke, allerdings selber erst am Ende eines Endlosmonologs weiß, worauf ich überhaupt hinauswollte. Doch ich reflektiere und lerne daraus. Und genau dieses Reflektieren trägt dazu bei, dass wir uns weiterentwickeln.

Im Rahmen dieses Blog, sind wir auf einige spannende Menschen mit ganz eigenen, bunten Geschichten getroffen. Während leider der ein oder andere ein Problem damit hat, seinem Umkreis von der offenen Beziehung zu erzählen, erzählte mir ein junger Mann Mitte zwanzig, dass sich auch seine monogamen Freunde ein Beispiel an ihrer Beziehung nehmen würden. So sei zwar die sexuelle Freiheit nicht ihr Fall, der offene Umgang bzw. die ehrlichen Gespräche des Paares beeindrucke die Freunde allerdings. Ich fand diese Aussage unheimlich cool. Kommt es etwa zum Umdenken was offene Kommunikation und Ehrlichkeit angeht? Aus der Generation „Hitparade mit Goldzunge“ wird dann die Generation „Podcast mit Laberkopp“. 😉

References

References
1 hört sich irgendwie ulkig an
2 Separater Text „Der Dämon übern Küchentisch“ erscheint am 27.11.
3 die wie ich finde in unserer Gesellschaft viel zu wenig gemacht werden
4 wenn sie nicht aufdringlich sind
5 Ohrwurm: Helge Schneider – Wurstfachverkäuferin
6 Natürlich soll man nicht den Tag vor dem Abend loben – auch mein Leben ist nicht perfekt
7 Toller Satz – Stammt aus meiner Feder
8 oder ggf. auch mehrere
9 wie dein Vater es nannte, als du deinen Eltern davon erzähltest
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