Parkplatzgedanken – Was ist, wenn dann wirklich? (März 2019)

Nach dem Köhlerhüttenmoment und einem, freiwillig getrennt verbrachten, Sylvester, begannen wir das Jahr leicht mit einem Neujahrsspaziergang. Auch die Monate bis März hin waren leicht. Wir haben viel unternommen, inklusive eines Kurztripps nach Budapest. Doch die letzten Wochen waren eigenartig. Wir freuen uns aufeinander und gehen aufeinander ein. Dennoch merke ich immer häufiger, dass wir uns auch bei den Schwächen gar nicht so unähnlich sind. Ich habe Malte in der Vergangenheit häufiger für meinen eigenen, spontanen Kopf versetzt. Nun spüre ich am eigenen Leib, wie das so ist. Obgleich wir uns an dem einen Wochenende aufgrund meiner Kunst- und deiner Sportveranstaltung gar nicht sehen, versetzt du mich an dem darauffolgenden. Eine Familienfeier stand an und du hast mich schlichtweg vergessen. Wir reden, wollen achtsam sein und Fehler der Vergangenheit vermeiden.

Und dann kommt dieser Moment, in dem man in einem Auto sitzt, den Gesichtsausdruck des anderen sieht, das Gesagte nicht so recht versteht, aber erkennt, gleich kommt etwas Unangenehmes! Ist das zwischen uns doch nicht mehr als Freundschaft? Hast du heute etwa doch keine Rose für mich?[1]Bekannter Satz aus einer Reality Serie.

Wir kommen gerade von einer Sportveranstaltung am Wasser wieder. Während der Autofahrt redeten wir darüber, warum viele monogame Paare nicht ehrlich zueinander sind und was „offen“ eigentlich bedeutet. Und nun beichtest du mir, dass du am vergangenen Freitag, als du um etwas Zeit für dich alleine batst, du mit einer Frau aus dem Internet geschlafen hast.

Ich verlasse das Auto, atme ein, spüre einen scharfen Wind in meinen Lungen und meine festen Schritte auf dem Asphalt. Ich trage mein Lieblings-, ausgewaschenes, Blumenkleid und die alten braunen Halbstiefel. Mein Blick schweift über den Park-and-ride-Parkplatz. Eigentlich wollten wir nur kurz mein Auto holen und etwas essen gehen. Nun setze ich mich auf einen Bordstein, ein paar Meter entfernt von deinem Auto und schaue in die Leere.

Es ist der Moment, in dem ich merke, dass die Realität wesentlich komplexer ist, als die kindlichen Vorstellungen die ich habe. Ich bin nicht verletzt oder traurig. Es ist ein viel abstrakteres Gefühl. Ich bin verwirrt, kann nicht greifen was da gerade passiert. Als würde neben mir eine Giraffe sitzen mit den Worten „Hey Babe“. In diesem Moment wüsste ich auch nicht so recht, ob ich mich über die Anmache freuen, oder vor meiner eigenen Halluzination Angst haben müsste. Einerseits habe ich lange nach jemandem gesucht, der mich fordert, an dem ich mir die Zähne ausbeißen kann. Auf der anderen Seite überfordert es mich und ich sehne mich zurück nach der Sicherheit einer monogamen Beziehung. Dieser kleine Stich im Bauch, bei dem Gedanken, an das was du mir gerade erzählt hast, lässt mich einerseits Aufregung spüren, andererseits ruft er einen Fluchtinstinkt in mir hervor. In der Vergangenheit war ich zwar immer ehrlich, aber auch die Einzige, die sich solche Freiheiten genommen hat. Malte war nicht der Typ dafür. Somit lebte ich zwar in einer „offenen Beziehung“, jedoch in einer ziemlich einseitigen.

Und jetzt sitze ich auf dieser Bordsteinkante und rauche zügig die zweite Zigarette. Anstatt einer Giraffe steht nun ein kleiner, blonder Junge im Schlafanzug vor mir: „Hallo ich bin Jasper – Jasper Meyer.“ Ich blicke mich um. Wo kommt der denn jetzt her? Genau diese Frage stelle ich ihm und er erzählt mir, dass er mit seiner Mama morgen ein Kindermuseum besuchen werde und die beiden jetzt im Auto schlafen. Im Augenwinkel sehe ich besagte Mutter lächelnd auf mich zukommen. Warum können wir nicht alle so offen sein wie Kinder? Wer hat uns Schweigen und Verschweigen eigentlich beigebracht?

Eigentlich siehst du verdammt sexy aus, wie du in Jeans und Shirt mit Strubelfrisur so auf mich zukommst. Doch eigentlich bin auch böse auf dich, zu mindestens so etwas in der Art. Nicht weil du mit einer anderen Frau geschlafen hast, sondern weil du, anstatt gleich ehrlich zu sein, es auf „Zeit für dich alleine“ geschoben hast. Ich war an dem Abend, bei einer Freundin von Malte, auf halben Weg zu dir. Wir hätten von dort aus prima Richtung Wasser fahren können. Auch nach deinem „Date“. Zudem wurde ich beim Frikadellenbraten mit besagter Sandkastenfreundin an Malte erinnert. Mir wurde klar, wie schlecht ich eigentlich mit ihm umgegangen bin und bekam einen melancholischen Anfall auf ihrem Fußboden (Drama Baby, Drama). Ich hätte mich danach, um 1 Uhr morgens, gerne an dich geschmiegt, egal mit wem du was vorher gemacht hast. Aber so richtig böse bin ich auch nicht, denn wir stehen noch ganz am Anfang. Zudem haben wir von dem Führen einer offenen Beziehung beide keine Ahnung.

Du redest, erklärst dich und ich beobachte dich. Es ist März, 20 Uhr. Die Umgebung verdunkelt sich langsam und ich sehe wie das noch vorhandene Licht sich in deinem Bart spiegelt. Die roten Härchen werden vom Wind aufgerichtet. Deine Augen sind leicht gerötet, deine Gesichtszüge kantig. Du bist fast 40 und siehst damit verdammt attraktiv aus. Deine Emotionen wechseln. Obgleich du deiner Ehefrau nie körperlich untreu warst, hast du, um Diskussionen zu umgehen, nicht selten die Unwahrheit gesagt, und das nur bei Kleinigkeiten. Und nun hast du dich, beim Fallen in alte Muster, selber erwischt. Hättest du mir doch von Anfang an die Wahrheit sagen können. Wenn man so lange anders gelebt hat, ist eine Umstellung schwerer als man denkt, sagst du.

Die Zeit verstreicht und wie bei langen Gesprächen üblich, kann ich irgendwann die gesagten Worte nicht mehr richtig greifen. Als es schon fast ganz dunkel ist, werfe ich in den Raum, ob es nicht genügen würde, wenn wir so etwas wie „Freunde mit benefits“ wären. Ein Vorschlag, hinter dem ich selber kein Deut stehe. Soviel zum Thema Ehrlichkeit. Du erschrickst und sagst, dass wir dafür schon zu weit und die Gefühle zu tief wären. Kämpft dieser schöne Mann, von dem ich eigentlich denken würde, ich wäre gar nicht sein Typ, da gerade um mich? „Wenn du jetzt gehst, würde ich mir lange Vorwürfe machen. Bitte lauf nicht“ Er kämpft tatsächlich. Er redet, ich schaue ihn an und höre selber wie ich ruhig auf ihn eingehe. „Ich bin nicht böse, dass du mit einer anderen geschlafen hast. Ich merke nur, dass mir nach der ganzen Sache mit Malte und Andre, noch immer der Halt fehlt. Ich möchte weder meine noch vorhandene Energie, noch Zeit in eine Sache, vollkommen ohne jegliche Zukunft, geben.“ Du nickst und sagst, dass du auch noch nicht so weit bist, um frei und selbstverständlich mit dem ganzen „Offenen“ umzugehen. Du möchtest, dass die Sache zwischen uns cool wird triffst dich erst mit Menschen, die du bei Tinder kennengelernt hast, wenn du soweit bist. „Versprich mir so etwas nicht“, sage ich „ wichtig ist mir nur, dass wir offen zueinander sind und dass, was auch immer wir sagen, wir uns gegenseitig glauben können.“

Die Stimmung löst sich. Langsam fangen wir an, uns aneinander zu schmiegen und zu lächeln. Ich bin neugierig, frage nach Einzelheiten. Nicht um mich zu quälen, sondern weil es mich tatsächlich irgendwie erregt zu wissen, dass du eine andere Haut berührt hast. Gegebenfalls ist hier eine Schraube bei mir nicht ganz festgezogen worden – Dennoch herzlichen Dank an den Konstrukteur 😉

Du erzählst zögerlich von, nennen wir sie Katja. Du findest es noch komisch mit mir darüber zu reden. Trotzdem fühlt es sich für dich irgendwie gut und spannend an. Mittlerweile ist es finster auf dem Parkplatz und auch Mutter und Sohn, im Auto nebenan, müssten schon tief schlafen. Wir vereinbaren, uns die nächsten Tage häufiger zu sehen und fahren zu mir. Das Gespräch hat beide geschlaucht. Gegessen haben wir noch nichts. So krönt, anstatt dem ursprünglich geplanten Gang zum Thailänder unseres Vertrauens, eine Dose Ravioli nun dem Abschluss des Wochenendes.

Meine Nacht ist unruhig. Mehrmals wache ich neben dir auf. Mehrmals schmiegst du dich an mich und hältst mich fest. Am Morgen verabschiedest du dich sanft und ich starte in den Tag.

Ich war schon immer ein äußerst mitteilungsbedürftiger Mensch. Wenn irgendwas, sei es gut oder schlecht, meinen Adrenalinspiegel steigen lässt, erzähle ich es den Vertrauten in meiner Umgebung. Diesmal trifft es neben meiner Arbeitskollegin, besten Freundin Lisa und Exfreund André natürlich auch meine Reinigungsfrau des Vertrauens. Und alle sind sich einig: „Du lebst schon auf einem komischen Stern. Endlich hast du mal jemanden gefunden, der auch dort wohnt.“ „Maltes Familie von dem „My- little-Family-Eigenheim-Plüschbox-Stern“ konnte dich auch nicht verstehen“, führt meine beste Freundin Lisa weiter aus. „Ich finde es gut. Du stehst nun nach Malte genau auf der anderen Seite, und siehst so, ob du mit deinem eigenen Konstrukt überhaupt klarkommst“ Erklärt mir eine andere enge Freundin, mit einem süffisanten Grinsen.

Ja, ich bin zufrieden, dennoch erwische ich mich immer wieder dabei, wie ich an mir zweifle. Fehlt ihm doch etwas an mir? Gerade bin ich wieder kein Deut älter als fünfzehn. Ich weiß, wie es sich anfühlt von jemand Fremden begehrt zu werden. Ich suhle mich gerne in dem Gefühl, von Spannung, Erregung und Bauchpinselei. Dennoch verstehe ich noch nicht, warum du schon nach so kurzer Zeit mit einer anderen Frau schlafen wolltest/ musstest / konntest. Schließlich ist es doch was anderes, wenn ich den Drang nach Aufregung habe, als wenn du so etwas verspürst. Ist es doch, oder? Ich bemerke die Ironie in meinen Gedanken, die auch während der Arbeit nicht aufhören wollen zu kreisen.

Und so treffen wir uns nach Feierabend, um uns gegenseitig die eigene Gedanken- und Gefühlswelt zu zeigen – uns quasi gegenseitig in den Kopf zu lassen. Wie gewohnt sitzen wir mit einer Flasche Wein und selbstgekochtem Essen der Kategorie „Joa kann man mal machen, aber beim nächsten Mal probieren wir was anderes“, in meinem schwach beleuchteten Wohnzimmer. Ich kenne meine Perspektive, und während wir uns erzählen, wie wir Gefühle wie Freude, Eifersucht, Langeweile wahrnehmen, wird mir bewusst, wie ähnlich wir uns doch in manchen Dingen sind. Wir benötigen beide intensive Gefühle. Alltag und immer gleiche Abläufe bringen mich dazu auszubrechen. Dich bringen sie dazu aus dem Fenster zu schauen. Dieses Treffen mit Katja, war für dich hauptsächlich Bestätigung und Aufregung. Ich kenne dieses Gefühl. Nach nichts anderem habe ich in der Vergangenheit Ausschau gehalten, auch wenn mir Malte wichtig war. Unser Gespräch beruhigt mich, zeigt das Vertrauen, welches du in mir hast und bringt mich ein Stückchen näher zu dir. Dennoch kommen immer wieder Gedanken aller „Shit, du bist doch noch nicht so attraktiv wie du sein müsstest“ hoch. Selbstzweifel und Verlustangst tauchen reflexartig auf. Ich frage mich selbst, warum ich das Ganze nicht so locker sehen kann wie ich es eigentlich will. In stillen Minuten fange ich an zu reflektieren und merke, dass ich eigentlich noch nicht reif und selbstbewusst genug für das, von mir verfolgte Konzept bin. Ich spiele mit dem Gedanken, dich zu ermutigen, dich erstmal „auszutoben“ und die Finger von mir zu lassen. Ich stecke somit zwischen locker sehen und alles komplizierter machen, als es ist. Später beschäftige ich mich mit dem Thema „Reflexgefühle“ – woher stammen Verlustangst und Selbstzweifel im Allgemeinen (siehe Text Reflexgefühle). Doch nun brauche ich Bewegung!

Seit letztem Herbst besuche ich einen Kurs, in dem der gut gebaute, brasilianische, schwule Rodrigez mir und anderen halbspannenden Hausfrauen auf athletische Weise sexy Tänze beibringt. Gerade sitzen eine davon und ich breitbeinig auf einer Sportmatte und versuchen Rodrigez Floorwalk Übungen nachzueifern. Er sieht aus wie eine männliche Venus in einer Muschel. Seine Beine gleiten fächerartig von rechts nach links in die Höhe. Hausfrau Nr.1 und ich gleichen eher zwei Damen auf einem Frauenarztstuhl. Wie soll ich eine offene Beziehung mit Leichtigkeit führen, wenn ich mich nicht sexy fühle? Nach der Stunde rede ich genau darüber mit Rodrigez: „Der Schlussel ist Selbstbewusstsein – durchbrechen der bekannten Werte. Anstatt Verlustangst zu haben, sich selbst zu lieben und selbstbewusst zu wissen, dass ein Sonnenschein nie lange allein ist.“ Rodrigez bezeichnet dies nicht zu Unrecht als „Lebensaufgabe“ „Wenn ein Mann lieber mit einem anderen schlafen will, mein Gott soll er es tun, ich weiß was Mann an mir hat“, flötet er mit seinem portugiesischen Akzent, und bewegt sich dabei anmutig wie eine Stripperin. Er ist mit sich im Reinen. In diesem Moment merke ich, dass ich es mit mir noch nicht bin.

Ich bin ein Chaot, habe ständig zu viel auf dem Zettel und verliere daher auch gerne mal mich selber aus den Augen. Am nächsten Tag, Freitag, bin ich von der Arbeit überfordert und lenke mich zudem ständig ab. Dann fasse ich den Entschluss alle offenen Themen – von der Steuererklärung bis hin zu noch offenen Kunstprojekten – an einem Abend abzuarbeiten. Danach möchte ich mich dann erstmal auf dich und mich konzentrieren. Ich will sexy sein, selbstbewusst, wie der schöne Garten, in dem das Huhn sich gerne aufhält.

Wie selbstverständlich greife ich zum Kaffee, den ich nie trinke und zur Ritalintablette, die ich nie nehme. Als der Wachmann ins Büro kommt, merke ich so langsam, dass ich meine Fokussierung den Irrsinn mit ins Boot holt. Zwei Stunden später, finde ich mich benebelt, umringt von einem Wust aus undeutlichen Notizen und leeren Papieren, auf meiner Couch wieder. Es fühlt sich an, wie nach dem Joint, den ich mit 18 versehentlich alleine geraucht habe. Damals bekam ich Panik und rannte verwirrt um mein Sofa. Nun ist es der Couchtisch. Mittlerweile ist es weit nach Mitternacht. Ich habe mein Handy in der Hand und rufe dich an. Meine Sätze sind durcheinander und wiederholen sich durchgehend. Sexy und selbstbewusst geht auch irgendwie anders. Doch du bist ruhig, telefonierst mit mir die ganze Nacht.

Den nächsten Morgen verbringe ich damit, den Kaffee mit Leitungswasser aus meinen Adern zu spülen und mich auf die 1,5 stündige Fahrt zu meiner besten Freundin Lisa vorzubereiten. Sie werde heute, nach ihrer Scheidung, in Runde ihrer besten Freundinnen, ihr Hochzeitkleid verbrennen und wird auf gar keinen Fall wegen Zitat: „Solch einem Scheiß“ auf mich verzichten. „Du kannst gerne dein Chaos, deine Verlustangst und deine Selbstzweifel, in welcher Form auch immer, in die Feuerschale werfen. Nimm genügend Wasser für die Fahrt mit, fahr vorsichtig und fahr jetzt los“, sagt sie, als ich eigentlich schon am Absagen bin. Eingepackt habe ich ein paar Klamotten und alte Handtaschen – stellvertretend für meine, mich selber störenden Gefühle.

Als ich vor dem Feuer stehe, sind die Gedanken etwas klarer und die Nerven wieder stärker. Wir sind vier Frauen, jede hat etwas zu verbrennen. Bei der einen sind es Briefe und Erinnerungen der Vergangenheit. Bei der anderen sind es Fotos der Gegenwart und Zukunftswünsche, die nie ihre eigenen waren. Bei meiner besten Freundin ist es die Ehe, in Form ihres Hochzeitskleides. Alles hat irgendwie mit Beziehungen zu tun. Doch haben wir so viel mehr – uns selbst. Ich erinnere mich an Rodrigez letzten Spruch: “Und wenn mich bewerfen die Leute mit Tomaten, ich bin trotzdem sexy“ Und so werfe ich Chaos, Verlustangst und Selbstzweifel ins Feuer und siehe zu wie sie brennen. Auch die konkrete Unsicherheit, wie stark jetzt noch dein Interesse nach der Nacht mit Katja an mir ist, zerfällt im Feuer. Denn ich bin toll auf meine Art. Wenn du das auch so siehst, wirst du da sein. Wenn nicht, gibt es immer ein Plan B! Ein Sonnenschein wie ich, ist selten allein.


References

References
1 Bekannter Satz aus einer Reality Serie.
WordPress Cookie Hinweis von Real Cookie Banner