Thorsten Schulz – Eine Wintererzählung

Über diese eine Begegnung vor fast genau einem Jahr würde ich gerne schreiben. Sie behandelt nicht direkt das Thema offene Beziehungen oder Polyamorie, würde ich aber nicht so leben wie ich jetzt lebe, hätte es dieses Wiedersehen nach Jahren wohl auf diese Art nicht gegeben. Denn entgegen des bekannten Klischees, muss es in einer offenen, nicht monogamen Beziehung nicht hauptsächlich darum gehen, Sex mit anderen Menschen zu haben. Für mich ist es die Möglichkeit offen und aufgeschlossen durch die Welt zu gehen und ganz eigene Erlebnisse und Begegnungen zu haben, ohne gewisse Grenzen, welche die Monogamie einem auferlegen.  Wenn ich küssen möchte küsse ich. Bin ich verzaubert, verzückt, begeistert und beschwingt kann ich Haut spüren, wenn ich Haut spüren möchte. [1]Und der/die jeweils andere Person, der ich gerade begegne, dies natürlich auch möchte

Ich hatte lange nachgedacht, wie detaillierte ich über diese Begegnung mit Thorsten Schulz schreiben möchte. Um die Privatsphäre anderer Personen zu wahren, umschreibe ich auch hier kunstvoll, dichte die ein oder anderen Element hinzu und lasse andere weg – inspiriert werde ich jedoch von einer wahren Geschichte:

Mit Anfang zwanzig machte ich eine kaufmännische Ausbildung. Ich war die meiste Zeit die einzige Auszubildende in dem kleinen Betrieb. Mit einem quietschigen Klamottenstil, Papageienohhringen und einem Hang zu Flüchtigkeitsfehlern und unnötigen Fragen gehörte ich nicht unbedingt zu den Mitarbeitern des Monats. Ich ging gerne zur Arbeit, hatte es aber nicht immer leicht und machte es mir selber auch nicht immer einfach. Ich galt als bunte Spätzünderin, die nicht ganz auf den Kopf gefallen war, jedoch zu oft auf dem Schlauch stand und so die Kollegen mit unnötigen Fragen nervte. Dennoch gab es diesen einen Kollegen, der sich meiner annahm, mich förderte und irgendwie als eine Art zweiter Ausbilder fungierte. [2]Auch nach meiner Ausbildung riss dieser Kontakt nicht ab… bis heute, worauf ich ziemlich stolz bin

In meinem letzten Lehrjahr kam Thorsten Schulz dazu. [3]Der Name ist natürlich geändert, dem Original als Allerweltsname jedoch nachempfunden Er war smart und wahnsinnig gutaussehend mit rötlichen Locken und immer einem kecken Spruch auf den Lippen – Typ Surferboy. Ich habe etwas für ihn geschwärmt, allerdings behielt ich es für mich. Mit Anfang zwanzig war ich mir sicher, dass er ganz andere Mädchen treffen könne, als so ein hyperaktives Moppelchen wie mich. Ich hatte nicht wenig Selbstvertrauen dennoch war ich seit der Grundschule immer „DIE DICKE, LAUTE“ die irgendwie aus der Rolle fiel und offensichtlich nicht dem „Schönheitsideal“ der großen Masse entsprach. Thorsten und ich verstanden uns gut, mehr aber auch nicht, obgleich im Nachgang das Gefühl hatte, wir hätten doch das ein oder andere Mal miteinander geflirtet. Als ich meine Ausbildung beendete und in einen anderen Betrieb ging, riss auch der Kontakt zu Thorsten Schulz ab.

In den Jahren drauf kam es hin und wieder vor, dass mich jemand oder etwas an meinen Mitazubi von damals erinnerte. „Was wohl aus Thorsten Schulz geworden ist?“ „Der arbeitet jetzt sicherlich weiter in der Industrie oder bei irgendeiner Versicherung, ist verheiratet, hat zwei Kinder, einen Hund und eine Häuschen in Hamburg Jenfeld – wie so viele“ Standardtraum- Standardleben, sicherlich!

Und ich? Auch ich habe meinen Weg gefunden. Ich habe meinen „Brotjob“ im Hamsterrad und die Kunst in Form von bunten Bildern und farbenfrohen Texten als privaten Ausgleich. Ich lebe in einer offenen Beziehung, habe eine kleine Tochter, den Kopf voller Flausen und Ideen, und eine Reihe cooler Erinnerungen im Gepäck.

Im Dezember 2021 landet beim „Nebenbeitindern“ ein Mann auf meinem Stapel, der mir irgendwie bekannt vorkommt. Thorsten erkennt mich sofort, freut sich über den Zufall und fragt nach einem Weihnachtsmarktbummel. Normalerweise schreibe und telefoniere ich erst ein paar Tage, bevor ich mich mit einem neuen Onlinekontakt treffe. Zeit ist rar und mein Wunsch weiter Erfahrungen in schieflaufenden Dates zu sammeln, ist auch in dieser Zeit bereits gering. In diesem Fall sage ich sofort zu. „Das ist ja kein Date, vielmehr hat das Ganze eher den Charakter eines Klassentreffens“, sage ich mir.

Eigentlich hatte ich geplant, den Weg in die Innenstadt mit den öffentlichen Verkehrsmitteln zurück zu legen, da ich jedoch wieder einmal viel zu spät dran bin, steige ich kurzfristig in mein Auto und siehe da, das Universum ist gnädig und schenkt mir einen Parkplatz. Thorsten schreibt, er sei schon am vereinbarten Treffpunkt und warte auf mich. Ich bin ein wenig nervös. Nach so vielen Jahren möchte ich schließlich einen „guten“ Eindruck machen. Der erfolgreiche Thorsten [4]Über die Definition was erfolgreich überhaupt ist, sollte man meines Erachtens generell nachdenken. Zu oft bringen wir damit Job, Geld und weitere Statussymbole in Verbindung soll schließlich nicht denken, das pummelige hyperaktive Mädchen habe sich nicht weiterentwickelt. Obwohl schlanker geworden bin ich nicht – ganz im Gegenteil, aber das bekomme ich jetzt auch nicht gelöst. Ich richte Schal und Mantel, Bauch rein, Brust raus und gehe mit versucht souveränem Gang an verschiedenen Weihnachtsmarktständen vorbei. Das muss ungemein bescheuert ausgesehen haben. Zwischendrin stolpere ich über meine eigenen Füße und schnappe laut Luft, weil ich für meine Verhältnisse viel zu schnell unterwegs bin.

Erkennen tue ich Thorsten an den Augen. Sein Lächeln kommt mir bekannt vor, auch wenn da nun ein Ausdruck bei ist, der mich irritiert. Insgesamt sieht er ganz anders aus als ich ihn mir vorgestellt hatte. Die roten Locken sind deutlich dunkler und nach hinten gegelt. Die akkurat rasierte Bartlinie ist einem schmutzig wirkenden 6 Tage Bart gewichen. Seine Kleidung wirkt zerschlissen. Er raucht. Seine Finger zittern. Er lächelt – erfreut gleichzeitig aber ängstlich.

Ich denke kurz, dass dies kein Mann wäre mit dem ich mich unter anderen Umständen treffen würde. Im gleichen Moment wird mir bewusst wie oberflächlich dieser Gedanke ist. Ich lächle ihm aufrichtig zu und wir schlendern nebeneinander die weihnachtlich geschmückte Straße entlang. Wir kehren in eine Raucherkneipe ein. Dort ist es dunkel und uhrig. Thorsten zieht sich den Mantel aus und setzt sich neben mich auf einen Hocker. Auch er ist wie ich vielfach tätowiert. Während meine Haut farbenfroh verziert wurde, sind seine Tattoos dunkelbunt mit melancholischer Stimmung, aber gut gemacht. Er wirkt insgesamt kantiger und markanter als früher. Irgendwie steht ihm das. 

Zwei Menschen die sich lange nicht gesehen haben, halten vermutlich zunächst Smalltalk – leichte Gespräche an der Wasseroberfläche. Etwas das mir noch nie lag. Statt einfach zu beginnen, versuche ich den mir unbekannten Blick hinter dem bekannten Lächeln zu durchdringen. Seine Augen sind gerötet, so als wären sie es dauerhaft. [5]Ich bin ein bisschen erinnert an diesen einen Bekannten der Mittwochabend unbeobachtet einen gefühlten Jahresbedarf Holsten in seinen Kofferraum lädt und diesen innerhalb von einer Woche verbraucht. Sein Blick ist nervös, suchend.

„Wie ist dein Leben Thorsten?“ Mein Blick versucht zu sagen „erzähl mir von dir. Was auch immer du berichtest, ich werde es nicht bewerten. Er zieht lange an seiner Zigarette atmet aus und antwortet: „Ich mag Leben an sich, aber ich glaube es hat mich an einigen Stellen doch ziemlich gefickt“.

Trotz so vieler Jahre die wir uns nicht gesehen haben und einer damaligen Verbindung die eher als lose Bekanntschaft zu sehen wäre, reden wir von Beginn an unverblümt. Abwechselnd berichten wir was wir die vergangenen 12,13 Jahre erlebt haben, was uns gestärkt hat und was gezeichnet. Der Wunsch Thorsten zu imponieren und zu zeigen, dass aus dem dicken Mädchen etwas „vernünftiges“ [6]Was auch immer das sein mag geworden ist, ist nach der vierten Zigarette – eigentlich hatte ich mit dem Rauchen aufgehört – mit dem Rauch davongezogen. Nun bin ich einfach nur ich. Auch er wirkt ruhiger, nicht mehr so nervös wie zu Beginn. Trotzdem ist der Surfertyp Thorsten gewichen. Vor mir steht nun ein von vielfach gezeichneter Mann mit einer wilden Lache. Irgendwie erinnert er mich an Heath Ledger in seiner besten Rolle.

2010 standen wir an derselben Weggabelung. Auch ich hatte manch beschissene Zeit, doch hat mich der Zufall, das Schicksal oder einfach meine Intuition immer wieder belohnt. Dort wo mir das Glück in die Karten gespielt hat, sei es bei Vorstellungsgesprächen, Liebesbeziehungen, Dates, Wohnsituation, Familie, Geld, Freundschaften etc. stand das Pech als treuer Begleiter neben Thorsten. Auch ich habe mich mal daneben verhalten, auch ich habe mal geschummelt, auch ich habe mal gestohlen, geflunkert, getäuscht. Doch irgendwie ist nie schlimmeres passiert, stattdessen öffneten sich neue Türen und Chancen. Berauscht durch solche Glücksmomente wuchs ich, reflektierte und lernte. Thorstens Rauschmomente waren eher chemischer Natur.

Ich glaube ich bin auch einfach zu richtiger Zeit den richtigen Menschen begegnet. Während Thorstens Umwelt eher im zwielichtigen Milieu zuhause ist, besteht mein Freundeskreis aus verkappten Intellektuellen die mir gezeigt haben wie man wertschätzend kommuniziert, Situationen kritisch hinterfragt und das eigene Tun reflektiert. Vor allem haben sie an mich geglaubt. Irgendeine Hollywoodschauspielerin sagte einmal Zitat: „Man braucht nur eine Person im Leben die an einen glaubt“. Ich denke es können aber auch mehrere sein. Wie man schafft, unter den vielen Menschen genau diesen Personen zu begegnen kann ich nicht sagen. Vielleicht habe ich einfach nur Schwein gehabt. Und genau das macht mich in diesem Moment nachdenklich.

Wir reden, weit in die Nacht hinein. Es ist ein wirklich schöner, sehr purer Abend. Nach einem Besuch in einer Billiardkneipe, sitzen wir jetzt in einem hippen Laden mit modernen, zerschlissenen Sofas. Zunächst mit ein bisschen Abstand sind wir nun wie aus Versehen eng aneinander gerutscht. Die Beine lässig ausgestreckt mit dem Blick in die Ferne philosophieren und scherzen wir wie zwei alte Freunde.

Den Erzählungen nach wirkt Thorstens aktuelle Lebenssituation alles andere als stabil. Sein Platz ist irgendwo zwischen den Stühlen der Gesellschaft. Mir wird bewusst wie sehr viele von uns versuchen den anderen zu gefallen, sich der großen Masse anzupassen und den Traum von einem anerkennten Job, Ehe, Kindern und Haus träumen, weil es der Traum vieler ist.

Auch ich denke noch zu sehr darüber nach was andere von mir halten, anstatt ein mutiger Rebell zu sein. Und gerade finde ich den kantigen Thorsten viel hübscher als seine glatt gebügelte Azubiversion. Genau das sage ich ihm jetzt. Er ist überrascht und geschmeichelt. Thorsten erzählt mir offen, dass mit dem Jahren die Anzahl an Personen die ihn meiden zugenommen hat. Je schlechter seine Wohn-, Arbeits- und Geldsituation desto weniger Menschen hatte er um sich herum. Dies bezieht sich auch auf Liebesbeziehungen.

„Ich muss gestehen ich war in der Ausbildung ein bisschen verknallt in dich“, sage ich. „Okay, das ist mir leider nie aufgefallen?“ Ich bin überrascht von dem „leider“ in seinem Satz und erkläre, dass ein molliges, lautes Mädchen wie ich ja nicht unbedingt dem Schönheitsideal eines 20-jährigen Jungen entsprechend würde. „Es ist schade, dass dir wer auch immer diesen Eindruck vermittelt hat. Du warst schon immer ein ganz eigener Typ. Das mochte ich“

Die Kellnerin kassiert das letzte Bier. „Mit der Bahn ist es noch eine ganze Strecke bis zum Stadtrand. Soll ich dich rumfahren?“, biete ich an. Er nimmt das Angebot dankend an und wir schlendern durch die Nacht in Richtung meines Autos. „Ich hoffe du hast keine Angst einen fremden Mann in deinem Auto mitzunehmen“ „Solange du keine Waffen oder scharfen Gegenstände in den Taschen hast“, scherze ich. „Vielleicht solltest du mich lieber abtasten“, fordert er mich heraus. Ich bleibe stehen und tue wie mir geheißen nur wesentlich länger und näher als jede Türsteherin einer Mittelklassedisco es tun würde.

Erst lässt er es amüsiert über sich ergehen, dann erwidert er meine Berührungen. Wenn auch unsere Wege und Erfahrungen so unterschiedlich gewesen sind, so berühren wir uns doch auf sehr ähnliche Art und Weise. Er küsst wie ich, beißt mir auf die Lippe und spielt mit mir. Fuck! Mein 20-jöhriges ich reißt innerlich überrascht die Augen auf. Wir gehen weiter, lassen uns von der Nacht verschlucken und vom Vollmond beobachten. Und manchmal kann man die Zeit eben doch zurückdrehen und wenn es nur für eine Winternacht ist.

Noch in derselben Nacht verabreden wir uns für kommenden Freitag. In den folgenden Tagen habe ich immer wieder mein Handy in der Hand, verfasse eine Nachricht mit „Datevorschlägen“ und lösche sie wieder. Auch Thorsten schreibt nicht. Die Monate vergehen. Seither begleitet mich immer wieder der Gedanke an gleiche Chancen und verschiedene Wege. Manches haben wir in der eigenen Hand, manches fliegt uns zu.

Beendet sind diese Gedanken auch ein Jahr später nicht. Ich weiß nicht wie Thorsten jetzt lebt, ob er zufrieden ist oder noch immer irgendwie suchend. Kurze Zeit habe ich mich gefragt ob ich die Person hätte sein sollen die an ihn glauben sollte. Aber gehört da nicht auch eigenes Tun dazu?  Es ist nicht einfach an sich selber zu glauben, das Bild abzulegen welches man von sich selber. Vielleicht kann man nur proaktiv die Chance ergreifen, sich von den Menschen die einem ehrlich zulächeln die eigenen Stärken aufzeigen zu lassen.

Mich wird diese Begegnung weiterhin begleiten und sicherlich helfen an der ein oder anderen Stelle Antworten auf meine eigenen Fragen zu bekommen. Denn auch ich bin nicht selten nervös und überfordert von dieser schönen, dunkelbunten Welt.

Aber nun Schluss mit dem Geschwafel. Gute Nacht und guten Rutsch!

Musik: Nebensaison – Bosse, Nora Tschirner; Can´t get enough – Joplyn; Regen (PianoVersion) – Fynn Kliemann, Philipp Schwär, Klimger; Everyday Normal Guy2 – Jon Lajoine; Kokain – Apollo Sissi;  Brother – Delv!s; Weihnachten – Element Of Crime; Glühwein – Die Nowak; Mach das Licht aus wenn du gehst – Element of Crime; Maybe Tomorrow – Stereophonics

References

References
1 Und der/die jeweils andere Person, der ich gerade begegne, dies natürlich auch möchte
2 Auch nach meiner Ausbildung riss dieser Kontakt nicht ab… bis heute, worauf ich ziemlich stolz bin
3 Der Name ist natürlich geändert, dem Original als Allerweltsname jedoch nachempfunden
4 Über die Definition was erfolgreich überhaupt ist, sollte man meines Erachtens generell nachdenken. Zu oft bringen wir damit Job, Geld und weitere Statussymbole in Verbindung
5 Ich bin ein bisschen erinnert an diesen einen Bekannten der Mittwochabend unbeobachtet einen gefühlten Jahresbedarf Holsten in seinen Kofferraum lädt und diesen innerhalb von einer Woche verbraucht
6 Was auch immer das sein mag
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