Über mich und den anderen

Stelle man sich eine Menschenschlange an einer herkömmlichen Kasse, in einem herkömmlichen Supermarkt, in einer Nordmetropole in Deutschland vor. Ich bin die Frau mittleren Alters, überdurchschnittlich überproportioniert, rot gefärbte mittellange Haare, die versucht mit einem Lächeln und den Worten „guter Mann könnten sie mich vor ihren Wocheneinkauf lassen“, sich geschickt nach vorne zu schlängeln, um ihre zuvor verbummelte Zeit wieder aufzuholen. Auch kann es sein, dass ich mich in einem wild gemusterten Outfit spontan zu meinem Hintermann umdrehe und diesen frage, welche Nudeln er als Gastgeschenk kaufen würde: „die schwarzen Spagetti oder die bunten Farfalle?“ Nicht selten falle ich auf. Nicht weil ich es unbedingt will, sondern weil es einfach meine Art ist. Zudem ist es mein heimliches Hobbie, Menschen zum Lächeln zu bringen. Mein Humor ist eher schräg und mein Kleidungsstil eigenwillig. Mal trage ich einen riesigen schwarzen Poncho über einem rot karierten Kleid in Schottenoptik. Mal sieht man mich in Jeansrock, Netzstrumpfhose und einem Oberteil in der Farbe „Curry“, mit passender Handtasche, gestresst aber lächelnd durch die Straßen eilen.

Du lieber Tom hingegen bist der schlanke, smarte Typ, Haar und Bart naturrot, der nicht sofort auffällt. Auf den ersten Blick könnte man denken „warum tut sich der junge Mann das an? Könne er doch mit seinem Verstand und seinem Charme jede Standardblondine seiner Wahl haben.“ Bis du dann mit deinen großen blauen Augen diesen einen Blick aufsetzt, welcher an pelzige kleine Wesen mit dem Tenor, „ich weiß nicht was ich hier soll, bitte hab mich lieb“ erinnert. Ein erwachsener Mann, in dessen Herz noch immer ein traumtanzender kleiner Junge wohnt.

Mein Leben besteht und bestand schon immer aus viel Farbe und einer großen Portion Chaos. Selten komme ich pünktlich. Noch seltener habe ich einen Plan. Mit dem Wunsch irgendwas Kreatives zu machen, lernte ich einen „Bindestrich-Kauffrau-Beruf“, studierte irgendwas mit Wirtschaft und ging in die Industrie. Der Kunsttraum blieb. So besitze ich neben einem bunten Büro in Unternehmen B, eine Wohnung vollgeprobt mit Eigen- und Fremdbildern, sowie jegliche Utensilien mit denen man die Welt ein Stückchen bunter gestalten könnte. Verändern würde ich diese auch zu gerne. Bisweilen tüftle ich jedoch noch an einem Schlachtplan, bestehend aus Collagen, Texten und einem Blog zum Thema „offene Beziehung“ oder so herum. 😉

Heiraten war noch nie mein Ziel. Kinder, so sagte mir mein schlecht gelaunter Frauenarzt mit 18, könnten schwierig werden. Auch das Eigenheim, mit Baum in einer Reihenhaussiedlung, glich für mich eher dem Vortor zur Hölle, als dem lang gehängtem Lebenstraum. Mir sind Individualität, freie Liebe, intensiver Sex, farbenfroher Humor und tiefgründige Gespräche wichtig. Ich male und philosophiere gerne, laufe barfuß durch meine Wohnung sowie den Gang hinunter zur Waschmaschine meines Mehrfamilienhauses.[1]Meine eigene Waschmaschine  gab Anfang des Jahres den Geist auf. Eine neue kann, und will ich mir nicht leisten. Mein Freundeskreis ist bunt und meine Liebesgeschichten zahlreich. Ich Isabel, so lautet mein Alias, bin quasi eine moderne Interpretation eines Hippies der 70er Jahre.

Du lieber Tom, verkörpertest bisweilen eher das Bild des attraktiven Max Mustermanns der Neuzeit. Mit Anfang zwanzig lerntest du Standardblondine A[2]Standardblondine A ist auf keinen Fall negativ gemeint. kennen, fuhrst mit ihr zweimal im Jahr in den Urlaub und heiratetest sie, nach einem romantischen Antrag an einem Strand im südwestlichen Europa. Ein schlankes, gutaussehendes Paar mit dem Traum von Beständigkeit und Nachwuchs. Eure Beziehung hielt länger als alle meine Romanzen zusammen. Während ich von einer 3-4 Jahres-Beziehung zur nächsten sprang, zelebriertet ihr eure selbstgewählte Spießigkeit. Ihr kanntet euch, liebtet euch, doch habt viel und oft gestritten. Einem standarisierten Alltag folgte ein unerfüllter Kinderwunsch. Die traumhafte Eigentumswohnung bat neben Platz für sauber zusammengelegte Oberhemden, in den Jahren leider auch Raum für unerfüllte Nähe. Als Mann, der sich schon im Kindesalter vom Hier und Jetzt wegträumte, endecktest du, am größten Punkt gemeinsamer Einsamkeit, das Laufen für dich. Du liefst dem Traum, der irgendwie doch nicht deiner war, davon. Du trenntest dich, kündigtest deinen Job und zogst zurück zu deinen Eltern. Obgleich du irgendwie ein „Träumerlie“ bist, ist Beharrlichkeit und Wollen deine Stärke. Deine wohl geformten O-Beine trugen dich von Marathon zu Marathon und hinein in einen neuen, etwas moderneren Job. Was genau dein neues Lebensziel nun ist, weißt du noch nicht. Anders als das vorherige sollte es sein.

Anders war ich schon immer irgendwie. Obgleich ich die Welt aus recht tiefsinnigen Augen betrachte, meine Umgebung und manchmal sogar mich selbst mit psychologischen Überlegungen strapaziere, ist ein Großteil meiner Persönlichkeit noch recht verspielt. Während manch anderer Anfang 30 ganz klar erwachsen war, sich um Eigenheim und Rente kümmerte, schlief ich wie ein Teenie so manches Mal in meinem Wagen, wachte in einem Sonnenblumenfeld auf und begutachtete das Gesicht des Mannes, der gerade an meiner Seite war. Meine Ersparnisse überschritten und überschreiten gerade den Wert von zwei Mittelklassestaubsaugern und mein Job ist heillos unterbezahlt. Doch blicke ich mich um, würde ich nicht tauschen wollen. Wichtig sind mir farbenfrohe Freundschaften, skurrile Erinnerungen und Momente. Davon habe ich einen ganzen Haufen gesammelt.

Währen du Tom, nur die eine Frau auf Händen trugst und auch dein Freundeskreis mit den Jahren immer überschaulicher wurde, zog ich mit dem einen Mann in Wohnung A und mit dem Nächsten ein paar Monde später wieder aus. Ich tanzte im Regen, aß auf Küchenfußböden Ravioli aus der Dose und genoss das Gefühl dieses einen ersten Kusses, der immer wieder kehrte. Auch ernstere Beziehungen waren dabei. Schlich sich jedoch der Alltag ein, legte ich meine rosarote Brille zurück ins Etui und flog zur nächsten Blume, zur nächsten Liebe meines Lebens(-abschnitts).

Vor ein paar Jahren, kam auch bei mir der Wunsch nach Beständigkeit auf. Doch anstatt mich auf direktem Weg zum Traualtar zu begeben, kam ich mit einem Mann zusammen der genauso ruhig war wie ich aufgekratzt. Ich gestand ihm, dass ich zwar treu im Kopf sei, Monogamie aber nicht mein Ding wäre. Er, nennen wir ihn Malte, liebte mich. Ich hingegen liebte das Abenteuer. Nach ein paar Jahren lernte ich am anderen Ende des Landes einen Mann kennen, der genauso wild und unberechenbar war wie ich. Den Namen André finde ich ganz passend. Ich trennte mich nicht, sondern fuhr ganz offen zweigleisig – meine ganz eigene Interpretation einer offenen Beziehung. Natürlich gestand ich Malte die gleichen Rechte wie mir zu, wusste jedoch insgeheim, dass er diese nicht nutzen würde. Zwei Jahre hielt die Konstellation, bis sich im Sommer 2018 André anderweitig verliebte. Getroffen von einem Geschehen, das mir jeder, sogar die Reinemachfrau, voraussagte, ertrank ich meinen Kummer in haltlosen Affären und stieß Malte so unbewusst vor den Kopf. Das Ende vom Lied war dann, ein Sommer mit doppeltem Liebeskummer.

Bereits zur Sommersonnenwende warfen meine Freunde Geburtstagswünsche an das Universum für mich ins Feuer. Neben wirtschaftlicher Unabhängigkeit, einem Pony und einem Jahresabo von Bofrost, wünschte man mir vor allem, dass ich meinen Weg finden würde. Ich begann mich aufzurappeln, bekämpfte meinen Kummer mit Sport und dem übergebliebenen Ritalin des Sohnes meiner Freundin. Ich nahm 16 Kilo ab. Zudem ergriff ich das Ziel, meine Abenteuerlust vor allem durch Kunst zu stillen. Trotzdem lernte ich in einem erotischen Tanzkurs, wie man richtig mit dem Hintern wackelt. Durch eine selbstgewählte Verhaltenstherapie bekam ich zudem die Diagnose „Aufmerksamkeits-sowieso gepaart mit Hyperaktivität“. Auch das hätte mir meine Reinemachfrau vorher sagen können. 😉 Malte tauchte ab und zog sich auch von unserem gemeinsamen Freundeskreis zurück. André konnte ich als Freund behalten. Ich selber wünschte mir vom Universum beständige Liebe. Warum eigentlich kein Pony?

Im Herbst begegnete ich dann dir Tom, diesem „affektierten Pinsel, warum schleppst du mir denn jetzt so einen an? Kannst du denn bitte wieder wegschicken, Isa? “Für meine beste und gleichzeitig schrillste Freundin wirktest du arrogant und unnahbar. Mich fasziniertest du. Auch hatte ich das Gefühl, eine ganz andere Art an dir zu sehen als sie. Gemeinsam können wir stundenlang reden, lachen und ellenlange Sprachnachrichten verschicken. Unsere Gespräche über die Psychologie des Menschen erinnern nicht selten an Bandsalat. Während man mich als quirlige Chaosqueen betrachtet, die sich mit neuen Abenteuern häufig selbst ablenkt, bist du der Traumtänzer, der sich zwar seiner bewusst ist, aber mit den Gedanken immer wieder abschweift. Wir begreifen und verstehen uns. Deine ruhige, diplomatische Art gibt Halt und nimmt mir ein wenig Geschwindigkeit.

Wir teilen die Leidenschaft an der Leidenschaft. Neben meiner Kunst und deinem Sport ist jede Berührung intensiv, jeder Kuss leidenschaftlich und jeder Laut… laut! Wir sind Begeisterungsmenschen, Momentmenschen. Wir müssen spüren, fühlen, riechen. Wir zerkratzen uns unserer Körper und rauben uns den Verstand. Manchmal rauben wir uns durchaus auch den letzten Nerv. So verschiedenen unser Äußeres und unserer Interessen sind, so ähnlich ist doch unserer liebevolle, egoistische Gefühlswelt. Nicht selten halten wir uns gegenseitig den Spiegel vor. Vieles an dir fesselt mich. Dein Blick, fest und tief. Dein Köper, schlank und definiert. Von Beginn an fühle ich mich in deiner Nähe attraktiv, begehrt und irgendwie besonders. Sitze ich abends auf meinem Bett und du ziehst dich vor mir aus, freue ich mich immer wieder aufs Neue auf diesen Anblick und bewundere dich wie ein Kunstwerk. Du hast ein Faible für 80er Jahre Musik und eine Schwäche für asiatisches Essen. Bei unserem ersten Treffen erzähltest du mir, dass du in deinem früheren Leben manchmal so etwas ähnliches wie verbohrt warst. Nun lerne ich dich als aufgeschlossenen (sexuell) experimentierfreudigen Mann kennen, dessen Gesichtszüge in den Jahren kantiger und dessen Bart voller geworden ist.

Wären wir uns vor Jahren begegnet, hätten sich der Milchbubi ohne Bart und das dicke Mädchen mit den Papageienohrringen [3] Die Papageienohrringe trägt nun übrigens meine beste Freundin Lisa.noch auf der Treppe ignoriert. Doch jetzt ist jetzt. Der perfekte Moment um gemeinsam und individuell zu starten und nebeneinander her zu gehen. Deine Begeisterungsfähigkeit begeistert mich und deine verträumte manchmal auch verspielte Art gibt mir Halt. In deiner vergangenen Beziehung hast du nicht selten Abgründe gesehen. Stand das Alltagsmonster vor meinem Bett, brach ich in der Vergangenheit aus meiner aktuellen Beziehung aus. Du schautest stattdessen aus dem Fenster und zeigtest deiner Partnerin nicht das Verständnis für ihre Dämonen, welches sie vielleicht gewünscht und gebraucht hätte. Das Ergebnis ist das Gleiche, denn nun stehen wir nach deiner gescheiterten Ehe und meinen zahlreichen „Beziehungsexperimenten“ an einem Punkt, an dem wir es irgendwie anders machen wollen – offener, intensiver, freier.


References

References
1 Meine eigene Waschmaschine  gab Anfang des Jahres den Geist auf. Eine neue kann, und will ich mir nicht leisten.
2 Standardblondine A ist auf keinen Fall negativ gemeint.
3 Die Papageienohrringe trägt nun übrigens meine beste Freundin Lisa.
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