Von Callboys, Jungfrauen und anderen Vorurteilen (Juli 2020)

Als Teil einer offenen Beziehung hat man nicht selten mit Vorurteilen und Klischees zu tun. Sätze wie, „Ach und für den anderen ist das okay?“, „Seid ihr eigentlich richtig zusammen?“, “Schläfst du dann auch mit mir?“ und „Ich wette irgendwann seid ihr so monogam wie wir“, gehören zu den Klassikern. Diese werden allerdings vorwiegend von der älteren Generation oder gänzlich neuen Bekanntschaften angebracht. Vor allem mein Freundes- und Bekanntenkreis steht unserer „alternativen Lebensweise“ offen und interessiert gegenüber. Frei nach dem Motto „Leben und leben lassen“ genießen meine Freundinnen und ich den Austausch zwischen den Welten. Einfamilienhaus und Vorgarten trifft auf Tinder Dates und Swingercluberfahrungen.

Ich genieße die Vielfältigkeit der Menschen und habe Freude an der Freude meiner Freunde – egal ob es sich um eine neue Küche meiner selbsternannten Lieblingsspießerin handelt oder um die Lederpumps des Soldaten aus Mitteldeutschland. Ich trete anderen Lebenskonzepten offen und interessiert gegenüber, bin emphatisch und habe auch Verständnis für Menschen, die kein Verständnis für mich haben. Wenn ich kann, blende ich Vorurteile aus und schaue hinter die Fassade. Doch wer frei von Schuld ist, werfe den ersten Stein und betrachte im kaputten Glashaus dann die Fehler der anderen im eigenen Spiegel. So finde ich paradoxer Weise korpulente Frauen häufig zu extravagant und aufgedreht und Menschen des Sternzeichen Zwillings – in dem ich selber geboren bin – ungemein anstrengend und sprunghaft.

Die Menschengruppe die ich noch nie verstanden habe sind Eltern, genaugenommen Mütter – ausgenommen natürlich derer, die sich in meinem eigenen Freundeskreis befinden. [1]Eigentlich ist die Mehrzahl der Frauen in meinem Freundeskreis Mutter 😊. Es sind die Frauen Mitte dreißig, die mit ihren Kinderwägen zu zweit durch die Einkaufspassagen fahren. Sie tragen einen Ehering am Finger, haben klassische Werte zu Partnerschaft und Monogamie, sind engstirnig, übervorsichtig was ihre Kinder angeht und nur begrenzt weltoffen. Gesprochen wird über Babynahrung, Missionarsstellung und Yogaübungen. Bislang bin ich 4 ¾ dieser Frauen begegnet. Und obgleich ein Großteil nicht so ist wie beschrieben, habe ich frischgebackene Mütter, frischgebackene Eheleute und frischgebackene Hausbesitzer in der Vergangenheit gerne gemieden. Damit bin ich nicht weniger engstirnig als die Personen, denen ich andichte so zu sein, wie ich es nicht mag. So sitzt neben meinem imaginären Schweinehund das Vorurteilsmonster auf meinem Gedankensofa und isst Chips.

Und nun bin ich selber Mutter und ganz sicher, dass dieselbe Macht, die mich zum übergewichtigen Zwillingsmädchen erkoren hat, mir beim Babyklamotten sortieren zuschaut und sich ins Fäustchen lacht. Doch zurückgeben würde ich die neue Rolle nicht. Ich liebe es dem kleinen Menschen beim Wachsen, Lachen und Entdecken zuzusehen. Ich lese keine Ratgeber, mache alles aus dem Bauch heraus, schmiere vielleicht zu viel Creme auf den Popo und füttere statt selbst gekochten Brei, häufig Gemüse und Co. aus dem Gläschen. Doch Baby spielt, freut sich und bereitet uns viele schöne und auch ruhige Stunden. Ganz abschotten von anderen Müttern kann und sollte ich mich nicht. Kinder brauchen Spielgefährten.

Noch während meiner Schwangerschaft traf ich beim Schwangerschaftsyoga auf eine Fitnesstrainerin Anfang vierzig. Als ich aus Angst vor einer Einleitung in der WhatsApp Gruppe um Ideen für eine beginnende Geburt bat, lud sie mich ein, gab mir ein paar Globulis und spazierte mit mir, in meinem Schneckentempo, um die Häuser. Ihr Kind kam knappe zwei Monate später auf die Welt. Jetzt laufen wir mit unseren Kinderwägen nebeneinander her, durch die Einkaufspassage in Richtung Babyladen. Sie hat eine fröhliche Art, ist aufgeschlossen, verheiratet und lebt mit ihrem Mann in einem kleinen Einfamilienhaus. Unsere Gespräche drehen sich um die zurückliegende Geburt, körperliche Beschwerden nach der Geburt, Rückbildungsübungen und Krippenplätze. Ich erzähle ihr von unserem Beziehungskonzept und meinem Leben allgemein. Sie hört zu, doch wechselt zügig zum altbekannten Babythema. Nach dem dritten Spaziergang lege ich Baby zum Mittagsschlaf hin und schaue mit dir als Kontrastprogramm Schwulenpornos. Zum nächsten Treffen habe ich Migräne, beim übernächsten Mal hat Baby Fieber und auch eine Woche danach fällt mir erneut eine Ausrede ein. Finden wir wirklich keine anderen Themen oder hat mein Vorurteilsmonster ihr bisher einfach keine Chance gegeben?

Ich frage meine Hebamme mit dem wallenden Haar nach coolen Müttern in der Umgebung. Sie rät mir, bei dem wöchentlichen Müttertreff, gleich neben einem der hiesigen Spielplätze, vorbei zu schauen. Gesagt, getan. So sitze ich nun auf meiner Picknickdecke, neben drei der ca. fünfzehn Mütter und versuche mich in das Gespräch zum Thema „Schlafgewohnheiten von Babys“ einzuklinken. Ich schaue verständnislos in die Runde und bekomme ähnliche Blicke zurück. Als ich mir bereits Gründe zum Gehen ausdenke, setzt sich die mir bekannte Fitnesstrainerin mit einem Strahlen neben mich. Ich mag die Freude, die sie an den Tag legt, wenn wir uns sehen und habe sofort ein schlechtes Gewissen. Bevor ich jedoch weiter darüber nachdenken kann, werde ich von einer Mutti drei Picknickdecken weiter angesprochen. Es handelt sich um eine unsicher wirkende Frau, die ihr Kind bezüglich Krabbelverhalten, Wachstum, Stuhlgang etc. durchgehend mit den anderen Kindern vergleicht. Sie kenne mich noch aus dem Vorbereitungskurs. Ich hätte fast alle Fragen beantworten können und habe mir sogar Notizen gemacht. Sie dagegen habe immer noch so viele unbeantwortete Fragen. Auf meine Antwort“ Ach ich bin gar nicht so gescheit und mache mir Notizen. Ich habe nebenbei wahrscheinlich an einer Sexgeschichte geschrieben.“, schaut sie nur verschreckt und dreht sich schnell zu einer anderen Mutter um. Meine Fitnesstrainerin dagegen schaut mich an. „Isa, you made my day“.

Etwas früher als die anderen brechen wir auf – mit unseren Kinderwägen nebeneinander in Richtung Fußgängerzone. „Ich kann deine Vorurteile gegenüber Müttern verstehen. Die anderen Damen in dem Kreis sind z. T. aber auch echt eigenartig, übervorsichtig und verbohrt. Hast du das Gesicht der Mutti von vorhin gesehen, als du die Sexgeschichten erwähntest? Ich mag deine lockere Art. Zudem finde ich es gut, dass du mir gleich von deiner Lebensweise erzählt hast. So weiß man sofort wer einem gegenübersteht. Zudem bietet, das weniger Angriffsfläche für Lästereien.“ Ab diesen Moment wird das Eis zwischen mir und „meiner“ Spaziergehmutter dünner. Das gegenseitige Interesse, unserer beider Welten, ist zwar nicht wahnsinnig ausgeprägt, dennoch ist es ganz schön, wenn man sich ab und an mal sieht und gemeinsam durch die Natur streift. Wenn es okay ist, dass ich ihre Welt nicht wahnsinnig spannend finde, ist es auch in Ordnung, wenn sie sich auch nicht vollends für meine interessiert!

Die Fitnesstrainerin und ich treffen uns im Sommer zwar nicht wöchentlich aber regelmäßig. Auch mein imaginäres Vorurteilsmonster ist ein wenig kleiner geworden und schiebt nun versöhnlich den Kinderwagen. Irgendwann erzählt sie aus heiterem Himmel von Bettflaute und Scheidenpilz. Und auch ich werde ihr gegenüber aufgeschlossener und hole Tipps zu deinem bevorstehenden, runden Geburtstag ein. Doch die Vorschläge, ich könne dir vielleicht eine besondere Übernachtung oder einen Duft schenken überzeugen mich nicht. Als du eines Abends zu einem Date aufbrichst, google ich nach Callboys im Internet. Auf der einen Seite, bin ich mir nicht sicher, ob ich damit doch zu weit gehe. Auf der anderen Seite würde ich dich gerne mit etwas Besonderem überraschen. Zudem weiß ich, dass deine Abende mit Männern [2]über die ich nebenbei berichtet habe nicht ganz von Erfolg gekrönt waren. Vor allem lag es wohl daran, dass die damals ausgewählten Exemplare, hauptsächlich auf Frauen stehen und sich noch nicht ganz auf einen Mann einlassen konnten.

Nun nach 1-2 Stunden Surfen im Internet, einem Glas Weißwein und einer unsicheren Email, klingelt mein Telefon. Eine flötende, porentief schwule Männerstimmer ist dran. Er – nennen wir ihn für diesen Text Paul – ist begeistert von der Idee und hätte kein Problem 1-2 Stunden Fahrzeit auf sich zu nehmen. Wichtig seien ihm vor allem sympathische Kunden. Ich bin hin und her gerissen, ob das wirklich so eine gute Idee ist, werde aber von meinen engsten Freundinnen bestärkt. Lisa ist sogar so begeistert, dass sie und ihr Partner prompt einige Taler dazu legen. Um dich nicht vollends zu überfordern, überlege ich mir aber auch einen Plan B. So kannst du an deinem Geburtstag wählen zwischen der Karte mit den zwei sich umarmenden Bananen und dem Gutschein für einen Baristakurs. Nach ein paar Tagen Überlegung entscheidest du dich für die Bananen.

Eine Woche nach deinem Geburtstag warten wir dann auf unseren besonderen Besuch. Da dieser 1-2 Stündchen Anreise hat und es erst früher Nachmittag ist, bestellen wir beim Lieferservice um die Ecke Sushi. Nach dem Essen wollte ich mich dann mit unserer Tochter zum Nachbarn aufmachen und dir / euch meine Wohnung überlasse. Die Ecke ist an diesem Sonntag jedoch weiter als gedacht und so klingeln Callboy und Lieferservice zur selben Zeit an der Tür. Als ich die Treppen nach unten gehe, stehen die beiden Herren auch wirklich nebeneinander. Der eine bringt Essen, der andere sich selbst.

Paul ist hochgewachsen, schlank und braun gebrannt. Seine Kleidung ist lässig und sein Lächeln einladend. Ich nehme ihn mit nach oben, gebe das Sushi schnell beim Nachbarn ab und stelle dir dein Geburtstagsgeschenk vor. Bevor ich mit unserer Tochter rüber gehe, unterhalten wir uns ganz nett zu dritt in unserem Wohnzimmer und ich merke, dass unser Gast überrascht ist von dem netten Gespräch und der leichten Atmosphäre. So erwähnt er auch, dass er es selten hat, dass er mit Kunden so nett reden kann, sie ihn gar als Gesprächspartner statt als reinen „Lieferservice“ wahrnehmen. Es gäbe viele Vorbehalte seiner Berufswahl gegenüber. „Solange der Bub daran Spaß hat und aufpasst, soll er doch Spaß haben! Ich finde ihn niedlich,“ denke ich mir und strahle ihn an. Er fragt daraufhin ob er bei uns duschen könne. Das letzte Bild, dass ich sehe bevor ich mit Klein My die Wohnung verlasse, ist das eines attraktiven, braun gebrannten, porientief schwulen Mannes, der vor meinem Badezimmer sein Shirt auszieht.

Ich habe einen netten Abend drüben bei den Nachbarn. Unser bzw. dein Besuch ist kaum Thema, nur das dieser schlecht mit seinem Auto einparken könne. Baby schläft schnell in ihrem Kinderwagenkörbchen ein und wir machen uns über das Sushi her.  Ich hatte mit dem jungen Mann einen Festpreis ausgemacht. Er würde dann solange bleiben, wie ihr euch halt verstehen würdet. Und ihr versteht euch anscheinend gut. Nach drei Stunden schauen ich schmunzelnd auf die Uhr. Kurz danach klopft es und Paul steht wie verabredet vor der Tür.

Noch in derselben Nacht erzählst du mir von dem Abend. Ihr habt euch gut verstanden und das freut mich. Obgleich ich keinerlei Berührung mit deinem Gast hatte, lässt mich der Gedanke an den Callboy nicht los. Seine Erlebnisse in dieser ganz anderen Welt interessieren mich. Ein paar Tage später fragt er per WhatsApp wie es uns geht. Ich erzähle ihm, dass ich mich für seine Welt interessiere und er freut sich sehr darüber.

Zwei Wochenenden späte, als du eine Verabredung mit einer neuen Frau hast, fahre ich mit unserer Tochter zu Paul ans Wasser. Er lebt ländlich, hat einen großen Hund und trägt eine Kopfbekleidung die mich stark an die einer Bäuerin erinnert. Das Wetter lädt zum Wandern ein. So machen wir uns mit Mütze, Hund, Kinderwagen und Sonnenbrille auf an die Promenade ganz in der Nähe. Paul gehört nicht zu der Sorte Mensch, mit der man sonderlich tiefgreifende Gespräche führen kann. Über manch naive Aussage zur Welt, muss ich innerlich schmunzeln, genieße aber den sonnigen Tag mit meinem heutigen Spaziergehpartner. Mittlerweile drehe ich ganz gerne mal meine Kinderwagenrunden mit der Fitnesstrainerin, aber dies hier ist doch deutlich spannender. Paul erzählt mir von sich, seiner Familie und dem Job. Nur wenige wissen von seiner Nebentätigkeit. Er wäre gerne ehrlicher. Ich gebe ihm zu verstehen, dass ich keinerlei Abscheu empfinde – im Gegenteil ich finde seine Nebentätigkeit [3]die er ausschließlich mit Männern ausübt spannend und mutig. Der Beruf der / des Prostituierten ist seit Jahrhunderten umstritten. Es gibt bei manchen / einigen leider eine düstere, unfreiwillige Seite. Eine Grundsatzdiskussion zu diesem Text möchte ich nicht entfachen. „Leben und leben lassen“!! Tut das was ihr tut aus freien Stücken. Passt auf euch auf, geht gut mit anderen um und seid glücklich!

Der Hochsommer steht für uns im Zeichen der Begegnungen. Du und ich sind ein gutes Team und ein leidenschaftliches Paar. Wir haben aber auch Spaß an neuen Kontakten, Begegnungen und Welten. Ich liebe den Austausch zwischen uns. Wir erzählen uns von Pleiten, schnörkellosen Begegnungen und Gänsehautmomenten. Während du an dem einen oder anderen Tag, das ein oder andere erste Date hast, befinde ich mich bislang im reinen interaktiven Austausch. Hierbei lege ich die Karten von Beginn an offen auf den Tisch.

Mir schreibt u.a. ein zwei Jahre jüngerer Mann der auf seinen Bildern ein ansteckendes Lächeln trägt. Er fragt gleich am Anfang nett, wie er sich eine offene Beziehung denn genau vorstellen könne. Es beginnt ein ehrliches Frage-Antwort-Spiel, welches sich über Wochen hinzieht. Wir schreiben uns hauptsächlich nachts. Es sind sehr lange Nachrichten, in denen wir nach und nach immer mehr unserer Persönlichkeit preisgeben. Während er zu Beginn noch geäußert hat, das Sex nicht oberflächlich, jedoch wild und zügellos sein sollte, eröffnet er mir nun vorsichtig, dass seine Erfahrungen auf diesem Gebiet eigentlich begrenzt sind. Bis auf literarisches Wissen hat er besser gesagt gar keine Erfahrungen auf diesem Gebiet. Ich bin überrascht doch nicht abgeschreckt. Wenn gleich…? Welchen Haken hat eine Person, wenn sie mit Anfang dreißig noch mit niemanden geschlafen hat? Vielleicht stimmt etwas mit der Hygiene nicht oder der Mensch ist sozial verbohrt? Doch muss eine solche Person überhaupt ein Haken haben oder denken wir fälschlicherweise automatisch, dass mit dieser Person etwas nicht stimmt? Es gibt schließlich auch asexuelle Menschen und warum sollten diese nicht auf Tinder zu finden sein? Interesse an Körperlichkeit habe er, nur hätte sich eine tiefere Verbindung zu einer Frau einfach nicht ergeben.

Während wir uns nicht nur auf dieses Thema beschränken und eine wirklich schöne, nächtliche, interaktive Kommunikation pflegen lässt mich der Gedanke „Was genau stimmt mit diesem Mann nicht?“ unterbewusst nicht los. Ich finde es allerdings nicht fair, nach einem Fehler zu suchen, den es möglicherweise nicht gibt, nur weil mir wann auch immer, von wem auch immer, kommuniziert wurde, dass so etwas nicht normal sei. Kurz vor der Begegnung mit dir Tom, ist mir ein Mann begegnet, der erst mit Mitte dreißig auf eine Frau in einer offenen Ehe traf und mit dieser seine ersten Erfahrungen sammelte. Sie hatten eine tolle Zeit mit vielen ersten Malen. Eine, wie ich finde, sehr schöne Vorstellung.

Die Kommunikation mit dem „Jungmann“ und mir läuft eine ganze Weile bis wir uns vornehmen, uns persönlich zu treffen. Zeitlich etwas später, aber es passt hier gut in den Kontext, treffe ich einen Mann im Netz, mit dem auch von Beginn an eine nette, offene Kommunikation entsteht. Er steht der offenen Beziehung allerdings nicht ganz so offen entgegen. Doch er findet mich interessant und möchte dem „Konzept“ eine Chance geben. Per Sprachnachricht erzählt er von seinen Interessen und dem Problem, dass er bislang immer bei demselben Typ Frau „hängen geblieben“ ist. Es waren Frauen, die aus seiner Sicht schnell begannen, an allem möglichen rum zu kritisieren und zudem durch Eifersucht das Gefühl von emotionaler Enge gaben. Nach 1-2 langen Sprachnachrichten steigen wir auf das Telefon um. Er redet viel von sich, doch ich höre gerne zu. Irgendwann beginnt er mit einem Monolog zum Thema Vorurteile und Diskriminierung. Natürlich bin ich auch kein Freund von Vorurteilen und Diskriminierung, nur finde ich es übertrieben Menschen mit festgefahrenen Meinungen „am liebsten gleich eine in die Fresse zu hauen“. Meinen Vorschlag, erst einmal zu hinterfragen, was diese Person zu ihrer Meinung, ihrem Handeln bewegt, ignoriert er. Leichtes Unbehagen steigt auf, doch ich möchte das Telefonat nicht gleich nach zehn Minuten beenden. Wenn ich von Chancen spreche, sollte ich auch ihm eine geben. So erzähle ich ein wenig von meinem Leben. Zu der groben Ausführung unserer offenen Beziehung schweigt er. Unseren Plan mit den zwei Wohnungen findet er seltsam. Als es um das banale Thema Filme und Serien geht, erzähle ich, dass ich eher ein „Hörspielmädchen“ bin und ich meinen Fernseher auch verschenken könne. „Du bist auch nicht so wie andere Leute oder?“, kommt es aus dem Telefonhörer. Ich stutze, gehe zügig zu einem noch belangloseren Thema über und breche das Telefonat dann so charmant es mir möglich ist ab. Nach ein paar Minuten bekomme ich die Nachricht, dass der Funke bei ihm nicht übergesprungen sei und wir das, ganz zu Beginn geplante Treffen lieber lassen sollten. Ich bin seiner Meinung, wünsche ihm alles Gute, schreibe aber noch, dass er vielleicht nicht ganz so tolerant sei wie er es gerne wäre. Vielleicht ein Grund warum er bislang immer nur bei dem gleichen Typ Frau landet. Mit diesem wirklich lieb gemeinten und formulierten Satz schicke ich die Nachricht ab. Eine Antwort bekomme ich nicht. Stattdessen werde ich blockiert. Es ist eine Begegnung, die erneut ein Nachdenken zum Thema Vorurteile bei mir entfacht und zu anderem Auslöser für diesen Text bzw. für diese Themenzusammenstellung ist.

Aber zurück zu dem Jungmann. Die Tage sind lang, die Nächte warm und wir verabreden uns unter der Woche zu einem lockeren Spaziergang mit Essensoption. Ich fahre eine knappe Dreiviertelstunde später los als geplant, rufe ihn allerdings vom Handy aus an, um seine Wartezeit gefühlt zu verkürzen. Torben – wie er in diesem Blog gerne genannt werden möchte 😉 – reagiert locker. Als ich am Treffpunkt ankomme, steht vor mir ein hoch gewachsener, sehr schlanker Mann in etwas zu großer Kleidung, mit Brille [4]Ich gebe zu Brille bei Männern ist eigentlich nicht ganz meins und einem sehr ausgeprägten regionalen Akzent. Diesen kenne ich eigentlich nur von Männern deutlich älterer Generationen. Doch sein Gesicht ist wirklich hübsch und das Strahlen in seinem Blick mitreißend. Ich kann nachvollziehen, dass er nicht unbedingt der „Frauenaufreißer“ ist, vermute aber, dass dieser Mann hinter der Brille wirklich sexy sein kann.. er weiß es nur noch nicht!

Wir schlendern ohne großartig zu wissen wohin in Richtung Abendsonne. Torben und ich verstehen uns auf Anhieb und quatschen munter drauf los. Wie man sich denken kann, schwenkt das Thema schnell zu seiner Jungfräulichkeit. Ich möchte ihn nicht darauf reduzieren, allerdings bin ich ziemlich neugierig und interessiert an seiner Geschichte. Er wirkt nicht, als wäre er sozial unverträglich und riechen tut er auch nicht schlecht. [5]da ist es wieder das Vorurteilsmonsterchen. Wie ich hat er das Prinzip der klassischen monogamen Beziehung einfach nicht verstanden. Mit Anfang zwanzig beobachtete er, ein vielerorts übliches Phänomen. Kumpels in seiner Umgebung mit denen er gerne mal um die Häuser zog, hatten nun Freundinnen. Mit diesen waren sie fast ununterbrochen zusammen. Reine „Männerabende“ wurden von den Herzdamen äußert ungern gesehen. Natürlich gibt es auch andere Beispiele, nur gab es diese in Torbens Umkreis nicht. Während ich mir wahnwitzige Alternativen suchte und lustig ausprobierte, verstand er nicht, warum er nach einer Freundin Ausschau halten solle und lies es einfach bleiben. Torben mag Beständigkeit, Routine und Ruhe. Der permanente Anspruch einer Frau, und sei sie noch so „pflegeleicht“, würde ihn auf Dauer überfordern. Dennoch haben die meisten Menschen neben Sex, ein Grundbedürfnis nach körperlicher Nähe und Geborgenheit. Versuche Frauen, die er mochte als „Partnerin“ zu gewinnen, strandeten in guten Freundschaften oder reinen Sackgassen.

Das Torben Phasen wie den ersten Kuss im Kino, Streicheleinheiten im Park und Petting wenn die Eltern nicht zuhause sind, übersprungen hat, zeichnet seine Ausstrahlung. Er wirkt nicht unsicher. Auch seine Bewegungen, sein Gang lässt nicht auf ein schlechtes Körpergefühl schließen. Dennoch spüren Frauen so etwas. Konkret angesprochen hat er seine Jungfräulichkeit selten und wenn dann war es nicht unbedingt von Erfolg gekrönt, ganz im Gegenteil. Während Händchen haltende Männer und turtelnde Frauen zum Glück immer mehr in unserer Gesellschaft akzeptiert werden [6]hoffe ich zumindest, ist ein Mann der mit Anfang dreißig noch Jungmann ist eher ein Exot. Auch sein Wunsch, sich nicht an eine Person zu binden, eine Familie zu gründen und Besitz zu erwerben können so einige nicht verstehen. [7]Wobei doch trotz funktionierender Beispiele, die Rate an unglücklichen Personen, die nicht wissen, wie sie aus ihrer Beziehung mit Haus und Kindern wieder rauskommen, nicht klein ist. Mit offenen Beziehungen ist es nicht ganz anders. Auch hier gibt es nicht selten mehr Vorurteile als Verständnis.

Was ich cool an Torben finde ist, dass er sich auch von Beschimpfungen unerzogener Damen, und geplatzten zweiten Dates nicht hat unterkriegen lassen. So nehmen wir an unserem ersten Date die „Essensoption“ wahr, kehren in ein uriges Restaurant und quatschen bis nahe Mitternacht durch. Mich fasziniert der Gedanke, dass dieser Mann gemeinsam mit mir viele erste Male und auch sich selbst entdecken könnte. Das erste Mal an einer Unterlippe saugen, das erste Mal den Herzschlag und die Wärme einer anderen Person spüren, das erste Mal gemeinsam duschen, das erste Mal nicht nur Klamotten sondern auch innere Hüllen und Masken fallen lassen.

Da es mittlerweile schon dunkel, mein Auto aber näher dran ist, fahre ich ihn zu seinem Parkplatz. Als wir direkt davorstehen, bin ich auf einem Mal wieder sechzehn und nicht sicher, ob ich ihn zuerst küssen soll. Doch diese Überlegung hält ganze 10 Sekunden an, bis ich einfach tue was mein Bauch mir sagt. Er ist überrascht. So küsst er auch, aber nicht schlecht. Eine Unsicherheit ist jetzt allerdings deutlich spürbar. Wir verabschieden uns und treffen uns ca. 2 Wochen später in einem Restaurant bei mir um die Ecke wieder. Wir können sehr lange, ungezwungen und leicht über alles Mögliche miteinander sprechen. Während wir uns in vielen Charaktereigenschaften fast schon widersprechen, [8]Beispielsweise was Beständigkeit, Routine und Ruhe angeht. ist die Blickrichtung doch eine ähnliche. Wir reden über dies und das und essen Schnitzel mit Bratkartoffeln. Innerlich bin ich total gespannt, wie der Abend in Bezug auf Nähe verlaufen wird. Wird er mich berühren? Wie fühlt sich das dann an? Stimmt das Vorurteil, dass jemand ohne Erfahrung sich entsprechend hölzern verhält? Aber ist es nicht mit jedem neuen Menschen neu, sodass man sich nicht auf Erfahrungen berufen kann, sondern aufmerksam entdecken und probieren sollte?

Torbens Erfahrungen beschränken sich ausschließlich auf einschlägige Filme und Literatur. Welches Buch auch immer er gelesen hat, es muss der heilige Grahl gewesen sein. Wir sitzen in seinem Auto berühren uns zunächst nur an den Händen, erkunden dann aber zügig weitere Stellen des anderen Körpers – Bauch, Brustbein, Hals, Leiste. Torben saugt jede Entdeckung förmlich auf und beobachtet ganz genau jede meiner Reaktionen. Als die Scheiben seines Autos beschlagen, wird er immer „mutiger“, berührt mich an Brüsten und dringt mit seinen Fingern in mich ein. Ich lehne mich weit im Sitz zurück, genieße die Berührungen die nun alles andere sind als unsicher sind – bis dann irgendwann meine Lust auf die Fußmatte tropft.

Ich erzähle Lisa und einer weiteren sehr engen Vertrauten von dem Abend und auch, dass wir uns beim nächsten Mal bei Torben zuhause treffen wollen. Während meine eine Freundin ein komisches Bauchgefühl hat, macht Lisa sich ernsthaft Sorgen und mich dabei fast wahnsinnig. “ Wer so fingert ist keine Jungfrau, das ist eine Masche. Wer weiß, was der plant?“ Einerseits kann ich den Gedanken gut nachvollziehen, auf der anderen Seite nervt mich dieses in der Gesellschaft z.T. verankerte Vorurteil ungemein. Und was ist, wenn sie doch Recht hat und ich mich abends zerhackt in seiner Tiefkühltruhe wiederfinde? So vereinbare ich mit meiner einen Freundin mich, wenn ich dort bin, in regelmäßigen Abständen bei ihr zu melden. Für Lisa ist das okay, weil sie ggf. zu schnell panisch werden würde und eine ganze Hundestaffel losschickt. Und was sagt du, Tom dazu? Du vertraust mir, sagst, ich solle auf mein Bauch hören, auf mich aufpassen und mich regelmäßig bei meiner Freundin melden. Da ich es nur fair finde, wenn man auch selber weiß, dass man für einen wahnsinnigen Triebtäter oder ähnliches gehalten wird, informiere ich auch Torben über das allgemeine Misstrauen und mein Vorgehen wenn wir uns sehen. Ihn macht das Zweifeln an seiner Person traurig, kann aber auch verstehen das ich vorsichtig bin.

Wie sich der eifrige Leser bestimmt schon denken kann, liege ich nicht tiefgefroren in einer Kellertruhe. Auch die Jungfrau ist keine mehr. Und das Fazit dieses Textes? Auch wenn du ein weitestgehend weltoffener Typ bist, gibt es auch in deinen Tiefen das ein oder andere Vorurteil. Gut es gibt durchaus Klischees die sich bewahrheiten. [9]Mir ist z.B. in Paris, gleich als ich aus dem Bus ausstieg, ein Mann mit gestreiftem Pulli, Baskenmütze und Baguette unter dem Arm begegnet. Dennoch tut es der Welt und uns selber gut, wenn wir offen mit ihren Bewohnern, unseren Mitmenschen umgehen. Nicht selten täuscht der erste Eindruck und ein weitergetragenes Klischee löst sich in Luft auf. Zurückbleiben, wichtige Erkenntnisse, bereichernder Begegnungen und intensive Momente.

Auch mein Abend mit Torben war intensiv, genauso wie die folgenden. Da es für mich eine bereichernde Begegnung war und noch immer ist, werde ich dieser einen eigenen Text widmen. Doch keine Angst, ein Groschenroman wird es nicht.😉 Ich bediene nicht das Vorurteil, es würde sich bei einem erotischen Text ausschließlich um Sex drehen.

References

References
1 Eigentlich ist die Mehrzahl der Frauen in meinem Freundeskreis Mutter 😊
2 über die ich nebenbei berichtet habe
3 die er ausschließlich mit Männern ausübt
4 Ich gebe zu Brille bei Männern ist eigentlich nicht ganz meins
5 da ist es wieder das Vorurteilsmonsterchen
6 hoffe ich zumindest
7 Wobei doch trotz funktionierender Beispiele, die Rate an unglücklichen Personen, die nicht wissen, wie sie aus ihrer Beziehung mit Haus und Kindern wieder rauskommen, nicht klein ist.
8 Beispielsweise was Beständigkeit, Routine und Ruhe angeht.
9 Mir ist z.B. in Paris, gleich als ich aus dem Bus ausstieg, ein Mann mit gestreiftem Pulli, Baskenmütze und Baguette unter dem Arm begegnet.
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