Die Sache mit der Sichtbarkeit – Wem zeige ich was von mir?

Es ist schon einige Wochen her, dass wir unsere letzten Texte eingestellt haben, dabei ist die Summe meiner Notizen und Gedanken die aufs Papier wollen, mannigfaltig. [1]Ich kann hier nur für mich sprechen, doch ich glaube bei dir, Tom ist es ähnlich Was war geschehen? Zeitkrise, Wurmloch?

Neben der Tatsache, dass ich mich zwischen Babywindeln und Arbeitswahnsinn zeitlich immer noch zu Recht finden muss, gebe ich zu, dass mich die bunte social Media Welt zeitweise überfordert. Ich denke viel darüber nach was, wann und wieviel ich von mir / uns preisgeben will. Vor allem jetzt, wo – trotz Sonnenschein – statt Konzerte und Co., Ausgangsperre und Schnelltests vorm Friseurbesuch auf dem Plan stehen und Instagram und Co. als Fenster nach außen fungieren. Ich liebe es neue Leute zu treffen, fremde Welten zu sehen und andere Geschichten zu hören. Früher traf man sich auf der Straße beim Christopher Street day und auf bunten Flohmärkten – Heute trifft man sich im Internet.

In der interaktiven LGBTIQ-Szene [2]Lesbian, gay, bisexual, transgender, intersexuel, queer sind die Themen vielfältig. Es wird sich gezeigt, auf Dinge aufmerksam gemacht und Tabus enttabuisiert. Bunte Bilder zeigen Poly-Paare, Körperbehaarung, Regenbogenfamilien und Periodencomics [3]Beispiele und Reihenfolge sind beliebig gewählt. Ich mag es, dass das Besondere – fernab von gesellschaftlichen Normen – hier als normal und gerne gesehen dargestellt wird. Leben und leben lassen!

Mir begegnen einige authentisch aussehende Auccounts, welche das Gefühl vermitteln, man wäre mit dessen Protagonisten persönlich bekannt und sogar befreundet. Ob sie wirklich authentisch sind kann ich nicht beurteilen. Manche sind es wohl und manche nicht. Authentischer als eine Serie bei Netflix sind die Profile und Geschichten allemal…hoffe ich.

Influencer [4]Personen mit starker Präsenz und hohem Ansehen in sozialen Medien und die, die es werden wollen posten täglich Bilder, Videos und persönliche Texte um einen möglichst umfassenden Einblick in die eigene Welt zu geben. Anstelle der Selbstdarstellung und Selbstbeweihräucherung soll im LGBTIQ-Bereich Aufklärung im Vordergrund stehen. Das bei dem ein oder anderen die Grenzen dabei verschwimmen, ist nur menschlich. Denn seien wir mal ehrlich, wer wird nicht für seine Lebensweise gerne bewundert, oder zumindest geschätzt? Man sollte zu sich selber stehen, egal was andere über einen denken, doch Anerkennung und Lob tun der Seele trotzdem gut.

Ich beobachte sie gerne, die mir eigentlich fremden Menschen mit ihren bunten Profilen, dennoch schüchtern mich die persönlichen und intimen Einblicke von Menschen, denen ich nie begegnet bin irgendwie ein. In der Vergangenheit – als Instagram, YouTube und Facebook noch nicht zum Alltag gehörten – waren persönliche Einblicke ein Ausdruck von Vertrauen und Anerkennung eines Menschen, den man direkt gegenübersitzt. Auf meinem Endlosweg zur Arbeit lernte ich diverse Personen z.B. in der Bahn kennen. Ich sprach sie selten direkt an. Ein Gespräch ergab sich durch Zufall [5]z.B., weil man dasselbe Bild auf der Straße beobachtete, oder einem das Taschentuch in der Handtasche fehlte. Dann aber erzählte ich immer aufgeschlossen von mir und freute mich darüber, wenn mein Vis-a-vie [6]Begriff für „mein Gegenüber“ – benutzt man gerne im bayrischen Raum es mir mit der gleichen Offenheit dankte.

Im Allgemeinen gehöre ich wohl zu der Kategorie Mensch, die ihr Herz auf der Zunge trägt. Dies tue ich aber auch nur, wenn ich zu einer Personen direkten Augenkontakt oder zumindest Telefonkontakt habe und durch Mimik, Gestik und Stimmenfarbe ihre Reaktion einschätzen kann. Umgekehrt, wenn mir etwas erzählt wird, ist es genauso. Ich kann die Personen beobachten und so einschätzen, was der Austausch mit ihm / oder ihr macht. In diesem Moment entscheide ich wieviel ich erzähle oder erfragen möchte. [7]Im privaten bin ich damit bislang immer sehr gut damit gefahren. Im beruflichen Kontext schlage ich mir hier allerdings regelmäßig die Knie auf – Ich hatte schon als Kind aufgeschürfte Knie. Es … Continue reading

Erfahre ich via Instagramstory oder durch einen Podcast private Geschichten, steigt im mir automatisch das Bedürfnis auf, ihm oder ihr für dessen Vertrauen in mich danken zu müssen. Dann aber fällt mir ein, dass er/ sie mich gar nicht persönlich kennt und ich lediglich eine von 100, 1.000 oder 10.000 Zuhörer*Innen bin. Meine Nachrichten an diese Personen waren daher immer etwas hölzern, auch wenn sie eigentlich Lob oder Mitgefühl vermitteln sollten. Die Reaktionen darauf waren entsprechend verhalten. Manchmal ist es mir fast unangenehm, dass ich so viel Infos bekomme und anstatt einer Nachricht nicht mehr Anerkennung leisten kann. Zu nahe treten will ich aber niemanden. Ich habe auch nicht unbedingt das Bedürfnis, mich mit jedem zu treffen, auch wenn du dessen Offenheit in mir das Gefühl aufsteigen lässt, es ihm / ihr danken zu müssen. Ich gönne jedem, auch abseits von dem was größere Personenkreise sehen, sein/ ihr eigenes Privatleben. Aus Achtsamkeit würde ich wohl niemanden, den ich irgendwo wiedererkenne ansprechen, der mich nicht direkt anspricht. Ich will mich nicht aufdrängen und Indiskret sein. Ich finde es ist wichtig Dinge zu haben von denen nicht jeder weiß – einen privaten Raum um sich herum.

Es ist nicht einfach, nicht in den Sog von bunten Bildern und Geschichten zu geraten und nicht stundenlang am Handy zu hängen, mit dem Bedürfnis, selber anhand von Posts und Story täglich einen Beitrag zu leisten. Man kann sich und seine eigene Zeit schnell verlieren.

Selbst in unserer direkten Umgebung beobachten wir Menschen, die täglichen Content kreieren und sich langsam zu Personen mit starker Präsenz und hoher Followerzahl mausern. [8]Dies ist keine Kritik – jeder soll tun wonach ihm / ihr ist Manchmal beneide ich die tägliche Kreativität auf Knopfdruck. Ein Großteil der Inhalte, die ich mir anschaue sind zweifelsohne cool, inspirierend, hilfreich und leisten sogar ihren Teil zur Aufklärung sozialkritischer Themen. Mich persönlich allerdings überfordert der Gedanke, regelmäßig Texte, Bilder und Story hochzuladen. Nicht selten war ich kurz davor, zu einem Thema, welches gerade polarisiert, meinen Beitrag zu leisten. Doch mein innerer Künstler bekommt bei dem Gedanken, auf Kommando kreativ zu sein, keinen Hoch und nimmt sich stattdessen ein Duplo aus dem Kühlschrank [9]Ja, bei uns steht die Schokolade im Kühlschrank. Für mich ist das Gefühl, zum Großteil für andere zu Texten, sie dadurch irgendwie auch zu entertainen, ungemein anstrengend. Ehrliche Texte fließen nur ganz frei aus mir heraus. Will ich jemanden gefallen, wird es murks. Mein Kreativspringbrunnen sprudelt nur wenn mir innerlich danach ist, manchmal auch nur spontan im Supermarkt oder im Wartezimmer. Meine Karriere als Werbetexter, Moderator oder Stand-up-comedian ist zu damit zu ende bevor sie begonnen hat.

Eigentlich schreiben du und ich nur für uns selber. Der Blog mit 1-35 Lesern pro Tag soll vor allem dazu dienen, das Schreiben zwischen Kinderkram und Alltagsmonster aufrecht zu erhalten. Gleichzeitig merken wir immer wieder, dass offene Beziehungen vielfach mit viel Klischee und Vorurteil in Verbindung stehen und möchten hier Aufklärung schaffen. Doch um Aufklärung zu erreichen braucht man nach Möglichkeit Reichweite. Neben dem regelmäßigen Posting und dem Kampf mit dem Algorithmus, spielt auch die Vernetzung mit anderen Profilen eine Rolle. Dies ist jedoch in unserem Fall nicht ganz einfach, da wir anonym und nicht mit unseren Gesichtern auftreten. Anscheinend führt diese fehlende Sichtbarkeit bei anderen Polyprofilen zu Irritationen und dazu, dass wir bei übergreifenden Aktionen eher über den Tellerrand fallen.

Ich hatte mich dazu letztens mit einer Freundin unterhalten. Sie findet es gut, dass wir zum Schutz unseres Kindes uns nicht direkt mit dem Gesicht zeigen, da unsere Texte doch sehr persönlich sind. Dennoch helfe unsere Anonymität denen, die auch eine offene Beziehung führen und Probleme haben zu ihrer Beziehungsform zu stehen, auch nicht weiter. Bei dir, Tom weiß ich, dass du nicht der Typ dafür bist, doch macht es Sinn, dass ich mich im Internet doch ab und an mal zeige?

Nichts desto trotz es ist nicht so, dass du und ich nicht zu uns und unserem Beziehungskonstrukt stehen. In unserer direkten Umgebung machen wir bei Familie, Freunden und Bekannten kein Hehl daraus wie wir leben. Während du im Allgemeinen einfach ein Typ bist, der nicht viel von sich preisgibt, fahre ich im direkten Kontakt eher die Strategie „FKK-Strand“. Jeder soll das von sich preisgeben was er möchte. Wenn jemand verschlossener ist, muss es nicht mit Unsicherheit und fehlendem Selbstwertgefühl zu tun haben. Es gibt halt Rampensäue und Erdmännchen. Ich zähle mich eher zu der Kategorie Bühnenferkel. Ich mag es im Rampenlicht zu stehen, aber nur wenn mir danach ist und nicht auf Abruf.

Worte und Taten werden automatisch immer irgendwie gewertet, das liegt in der Natur des Menschen. Und Infos die man einmal gegeben hat, kann man so leicht nicht mehr zurücknehmen. Ich möchte daher gerne lenken können wieviel der Einzelne über mich erfährt. Im Internet ist dies nicht ganz einfach. Ich finde es lobenswert, wenn sich Influencer und die, die es werden wohlen mit Kritikern konstruktiv auseinandersetzten. Mir genügt es, wenn ich mich im direkten Kontext bei flüchtigen Bekannten und Tinder-Dates immer wieder rechtfertigen muss. Dies im Großen Still zu tun, würde mein Zeitkonstrukt und mich enorm stressen.

Die Anonymität bzw. unsere Pseudonyme im Netz, geben neben einem geschützten Raum für uns und unser Kind vor allem eins: Ruhe!  Menschen die sich viel zeigen, kommunizieren viel. Sie werden gefragt, ob alles in Ordnung ist, wenn sie an einem Tag weniger posten und müssen sich ggf. für den angestrengten Gesichtsausdruck im gestrigen Bild rechtfertigen. Dies ist nicht unanstrengend und kostet vor allem Zeit. Es ist Zeit die ich gerne in neue Erlebnisse stecke um irgendwann darüber fluffig und frei zu schreiben. Wenn man uns nicht sieht, gibt das darüber hinaus auch dem Leser Raum für Fantasie, und uns die Möglichkeit intime Erlebnisse kunstvoll darzustellen und zu verschleiern. Wir werden somit weiterhin anonym in der Öffentlichkeit auftreten. Gegebenfalls werde ich mal an der ein oder anderen Stelle dezent hervortreten. Auf eines kann man sich aber weiterhin verlassen: Unsere Texte werden weiterhin ehrlich sein und Raum und Zeit authentisch abbilden.

References

References
1 Ich kann hier nur für mich sprechen, doch ich glaube bei dir, Tom ist es ähnlich
2 Lesbian, gay, bisexual, transgender, intersexuel, queer
3 Beispiele und Reihenfolge sind beliebig gewählt
4 Personen mit starker Präsenz und hohem Ansehen in sozialen Medien
5 z.B., weil man dasselbe Bild auf der Straße beobachtete, oder einem das Taschentuch in der Handtasche fehlte
6 Begriff für „mein Gegenüber“ – benutzt man gerne im bayrischen Raum
7 Im privaten bin ich damit bislang immer sehr gut damit gefahren. Im beruflichen Kontext schlage ich mir hier allerdings regelmäßig die Knie auf – Ich hatte schon als Kind aufgeschürfte Knie. Es hat mich immer nur voran gebracht 😊.
8 Dies ist keine Kritik – jeder soll tun wonach ihm / ihr ist
9 Ja, bei uns steht die Schokolade im Kühlschrank
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