Köhlerhüttenmoment – Haben wir eine offene Beziehung? (Dezember 2018)

Ende Dezember, zwei Tage vor Sylvester, ist noch alles unbedarft und frisch. Man will keine Erwartungen haben, doch irgendwie scharren sie schon mit dem Füßen…auf den Waldboden des Wildparks, durch den wir gerade laufen.

Die letzten Wochen waren leicht. Wir haben jeder sein eigenes Leben, doch sehen uns regelmäßig und telefonieren fast jeden Abend. Diesen Freitag war es anders. Spät nachts kam eine kurze Nachricht von dir, mehr nicht. Nicht das mich das stört, aber irgendwie ist es halt anders.

Heute an diesem Samstag, treffen wir uns in einem Wildpark, nahe deinem derzeitigen Zuhause. Als ich dich sehe, lächle ich. Ich trage eine schreiend bunte Pudelmütze und eine Winterjacke in der Farbe „Langweilig-Khaki“. Wir küssen uns und stapfen durch den leicht schlammigen Park. Als wir, die sich zankenden Otter begutachten, beobachte ich dich. Deine Silhouette ist heute ein bisschen kantiger als sonst, aber ich kann mir das auch einbilden. Genauso wie ich letztens Angst davor hatte, dass der Mann von der Post nachts durch die Kellertür…. – aber lassen wir das.

Wir gehen weiter. Reden nicht viel. Atmen tief ein. Ich mag es auch mal neben jemandem zu schweigen, ruhig zu sein – Ca. 3 Minuten, dann fange ich wieder an zu quasseln. Aber heute sind wir irgendwie beide zurückhaltend. Ich merke, dass sich bei dir irgendwas ergeben hat. Als wir auf Holzbrücke Nr.3 stehen, lächle ich und sage: “Bei dir hat sich etwas Neues ergeben oder? Erzählst du mir davon?“ Es soll leicht sein zwischen uns. Also verhalte ich mich auch so und lächle dir leicht zu. Du schaust in Richtung Ferne und sagst: „Der gestrige Abend war intensiv. Ich erzähle dir später davon.“ Neben den Wörtern „Leicht sein, leicht sein“, denke ich „Fuck was soll das denn heißen?“ Ich will dir nicht zu nahe treten. Ich gehe weiter neben dir her, lächle dir zu und erwidere, dass ich mich auf deine Geschichte freue. Mehr sage ich nicht. Die weiteren Minuten vergehen zwischen dezemberlichem Herbstduft, Wildschweingeruch, Rehscheiße und fast unnatürlichem Schweigen. Hier und da fallen unbedeutende Sätze: “Schau mal, da ist das Fledermaushaus.“ „Was für putzige Kerlchen, aber auf die Jacke scheißen, hätten sie mir echt nicht müssen.“

Noch mit den Gefühlen der letzten Monate auf dem Rücken, kann ich mich gerade nicht entscheiden, ob ich verunsichert bin, oder zufrieden, einfach nur den Tag mit dir zu genießen. „Aber was solls ich bin übergewichtig, sehe toll aus und trage eine bunte Mütze.“ Ein Mantra, welches ich mir den Weg durch die Natur immer wieder vorsage. Als es dämmert, kommen wir an einem großen Tipi aus Holz vorbei. Laut deiner Definition ist das eine Köhlerhütte. Dort brennt Feuer. ich gehe rein, setze mich auf eine Holzbank und du dich neben mich. Du wirkst nachdenklich, schaust ins Feuer. Ich sitze da mit ausgestreckten, überkreuzten Beinen und stelle mir die Frage, warum ich mir eigentlich keine Zeit nehme, als Single zuhause sitze, Früchtetee trinke und male. Stattdessen spüre ich diese Unsicherheit, die dafür sorgt, dass sich mein Bauch anfühlt, wie ein Schweizer Käse in einem Mäusekäfig.

„Was beschäftigt dich?“ Ich stelle die Frage und ab diesem Moment kann ich das Gespräch eigentlich nicht mehr greifen. Auch ein gut ausgebildeter Stenograph hätte, aufgrund der Fülle der Denkpausen und Halbsätze, so seine Probleme. Du gehst darauf ein, dass sich viel in deinem Leben verändert hat. Raus aus einer sehr kontrollierten Beziehung, raus aus einem eingefahrenen Job. Du weißt gerade nicht, was kommen wird, und was du eigentlich willst. In meiner Ergänzung handelt es sich darum, dass wir beide, nach unseren Erfahrungen, gerne eine offene Beziehung mit Leichtigkeit führen wollen. Wir stehen jedoch beide an verschiedenen Stellen. Du kennst nur die eine, monogame Beziehung und möchtest dich ggf. ausprobieren. Ich brauche zwar auch Aufregung, habe aber mit so vielen Menschen bereits geschlafen, dass ich fast mehr nackte als angezogene Körper gesehen habe, und nun etwas mehr Ruhe brauche als du vielleicht. Du stimmst mir zu. Doch wo führt das jetzt hin? Ich könnte jetzt meine bunte Wollmütze schnappen und das Ganze ad acta legen. Mein mit Löchern durchtränkter Bauch ist dagegen.

Das weitere Gespräch besteht aus Denkpausen, langen sich in die Augen sehen, Metaphern, und Wiederholungen. Als auch der imaginäre Stenograph müde wird, und mittlerweile der Mond die Situation von außen betrachtet, einigen wir uns weiter nebeneinander her zu gehen und offen zu sein. Sekunden später erlischt das Licht in der Hütte.

„Jetzt wo wir uns erneut drauf geeinigt haben, offen zueinander zu sein, kannst du mir auch von deinem gestrigen Abend erzählen“, flöte ich in die Nacht. Du läufst mit mir in Richtung Ausgang, wo auch immer der sein mag. Ich ahne, dass du lächelst. So viel zu erzählen gäbe es da eigentlich nicht. Du hättest dich mit deiner Sommerfreundin bei ihr zuhause getroffen. Ihr hättet euch nett unterhalten, dann hast du sie ausgezogen und geleckt. Deine Stimme hat diesen fröhlichen, hohen Ton. Meine hingegen, trägt einen „Scheiße, bitte was. Nein ich reiß mich jetzt zusammen“-Klang. Dennoch bleibe ich gefasst und frage fröhlich weiter nach. Schließlich stört es mich vom Prinzip ja nicht. Ich habe nur nicht damit gerechnet, dass wenn ich mit einem Mann über eine offene Beziehung spreche, dieser überhaupt, und dann noch so schnell, zur Tat schreitet. „Du hast mit ihr geschlafen?“ „Nein, sie war eher passiv. Sie hat am ganzen Körper gezittert und mir, als ich über ihr war, diese drei Wörter zugeflüstert“ Mit einem kumpelhaften Grunzen gebe ich ein lautes „NEiin, das hat sie nicht getan. Was hast du geantwortet?“, von mir. „Ich habe sie in den Arm genommen und gesagt, wie schön sie sei.“ „Ohh Gott meine Mütze.“ Ich greife mir auf den Kopf und kurz vor dem Ausgang gehen wir zurück Richtung Köhlerhütte.

Irgendwie finde ich das Geschehen gut, aufregend. Gleichzeitig bin ich jedoch verunsichert und suche neben dem Wildschweingehege einen Ausgang für diese, sich haltlos anfühlende Nummer. Ich finde weder diesen, noch die bunte Pudelmütze, die mir mein Vater zu Weihnachten geschenkt hat. Einen erfolglosen Gang zur Parkinformation später, setze ich mich vor dem Ausgang auf einen großen Stein, und zünde mir eine Zigarette an. „Irgendwie reizt du mich durch deine Art. Wir kennen uns jedoch nicht lange und ich dachte, für eine offene Beziehung muss man erstmal eine Beziehung haben, und irgendwie auch Vertrauen und Halt. Ich kann ja noch nicht mal deinen Nachnamen richtig aussprechen.“ Während ich das sage, versuche ich selbstbewusst zu wirken, doch irgendwie… “Geh bitte nicht“, sagst du und schlägst mir vor, ein bisschen was einzukaufen und einen gemütlichen Abend bei dir zu verbringen.

Eigentlich mag ich es ja auf dem Teppich zu sitzen, Oliven und Minifrikadellen zu naschen und Wein zu trinken. Gerade helfen aber auch die übergroßen Schlucke nicht. „Wir könnten hier in der Nähe an einen See fahren, oder Party machen irgendwo in der City“, schlägst du vor. Ich bin mir nicht sicher, aber Party in dieser Stimmung ist so absurd, dass kann nur gut werden. Also machen wir uns auf dem Weg zur Partymeile.

Ich war noch nie davon überzeugt, dass man durch rhythmisches Zappeln und Kopfnicken zu Musik, die man nicht mag, inmitten von Leuten, die man nicht kennt, gute Laune bekommt. Aber ich gebe dem Ganzen eine Chance – 35 Minuten lang. Dann machst du, wohl aufmerksam geworden auf meinen Gesichtsausdruck, der dem einer schlechtgelaunten Seekuhdame gleicht, einen anderen Vorschlag: „Wir könnten ins Traumland gehen.“ „Das ist eine Schwulenbar und du bist hetero, naja auf jeden Fall nicht an etwas Tiefgründigem mit einem Mann interessiert?!“ „Na und? Du hast mir mal erzählt, dass du schon häufiger dort warst, schnell mit Leuten ins Gespräch kommst, und es dort lustig ist“, antwortest du. Das stimmte, zuletzt war ich im Sommer dort. Mit einem großen Becher Liebeskummer und meiner Freundin im Schlepptau, sang ich laut „Nein sorg dich nicht um mich, du weißt ich liebe das Leben“ und tanzte danach mit Leander, alias Lilli oder wie auch immer er hieß, zu Helene Fischer.

Die Bar ist in ein rotes Licht getaucht und gut besucht. Am Tresen sitzen zwei wild knutschende Männer, ein Steuerberater, ein Fitnesstrainer und die Reinkarnation von Leonardo DiCaprio. Ich sehe mich um. Bunte Typen schwirren umher. Hier und da sitzen ein paar Frauen. Ich mag diesen Laden und setze ein Lächeln auf. Du stehst mittlerweile zwischen dem Steuerberater und Fitnesstrainer am Tresen und orderst etwas zu trinken. Du zwinkerst mir zu. Ich möchte erwidern, drehe dabei den Kopf leicht nach rechts, und treffe den Bartträger mir gegenüber. Zwei Sekunden später steht dieser vor mir und prostet mir zu. Weitere zwei Sekunden später, gesellt sich ein wunderschöner, mobbelliger, dunkelhäutiger Mitzwanziger mit Cappy zu uns. Bart und Cap, welche sich wiederum auch zum ersten Mal gegenüberstehen, entscheiden sich spontan, dass wir nun eine Gruppe seien, und den Abend zusammen verbringen müssen. Mit einem Glas Cola ohne- und einem mit Korn, kommst du zu uns rüber. Cap schiebt kurz die Cappy hoch, beäugt dich skeptisch und fragt: „Und wer ist das?“ „Tom, er gehört zu mir“, erwidere ich. „Mein Gott auch der wird tanzen können“ Cap schüttelt den Kopf und geht voran.

Auf einer Tanzfläche die ca. Platz für 100 Leute bietet, tanzt, knutscht, twerkt, mindestens das doppelte an Leuten gerade zu Prince mit dem Lied Kiss. Zu was auch sonst? Selten habe ich so viele schöne Männer auf einem Haufen gesehen. Selten habe ich so viel Leichtigkeit auf einem Haufen gesehen. Sowohl der Bart- als auch der Capträger sind begnadete Tänzer. Sie drehen, wackeln, schütteln ihre Körper mit solch einer Anmut, dass mir die Spucke wegbleibt. Ich bewege mich im Takt und drehe mich zu dir um. Du grinst mich an, gibst mir einen Kuss auf den Hals und nimmst meine Handtasche über deine Schulter. Tanzen konnte ich noch nie, obgleich ich seit Herbst tapfer einen Kurs der erotischen Tänze besuche. Dies tue ich aber auch nur, weil ich was für meine Figur machen muss, und Fan von dem spanischen, männerbegeisterten Fitnesstrainer bin.

Noch immer mit einem leeren Gefühl im Bauch, nehme ich einen Cola-Korn nach dem anderen von den beiden Jungs an. Eigentlich trinke ich nie, aber heute an dem Tag, an dem es scheint, als ob der nächste Beziehungsversuch im Desaster endet, bin ich dem Alkohol nicht abgetan. Nach zwei Stunden ergibt sich folgendes Bild: Die Tanzfläche ist nach wie vor proppe voll. Auf der Anhöhe tanzen zwei gut proportionierte Männer und eine etwas überproportionierte Frau an der Stange. Ich twerke! Ich bewege meinen Hintern, als hätte ich nie etwas anderes getan und als ob mein Leben davon abhängen würde. Bart- und Capträger schmiegen hingegen Schoß und Hintern in wilder obszöner Form aneinander und werfen dabei ihre Arme in die Höhe. „Ihr würdet ein süßes Paar abgeben“, rufe ich in die überlaute Musik hinein. „Nein Schwester, wir haben das schon gecheckt. Wir sind zwei Dosen und zwei Dosen klappern nur.“

Du, nach wie vor nüchtern, wurdest nach ein paar mutigen Tanzversuchen, mittlerweile von einem Pferdeschwanz Mitte Vierzig in ein Gespräch verwickelt. Vergnügt wirst du mir Blicke zu und signalisierst, dass ich mich ruhig weiter amüsieren soll. Das tue ich, doch Shots mit dem Namen „Mexikaner“ und „Orgasmus“ wild durcheinander zu trinken, kann eine fast zu lustige Idee sein. Erst recht dann, wenn ein wirklich weiblich wirkender Mann mit Bart vor einem steht und sagt „Übrigens ich küsse auch wie ein Mädchen.“ Das ist der Moment, in dem die Situation vollends entgleist und ich erst mit dem Bart- und dann mit dem Capträger wild herumknutsche. Du lässt dich nicht beirren, beobachtest die Situation, hältst tapfer meine Handtasche und das Gespräch mit dem Pferdeschwanz am Laufen. Einige Minuten später sitzen wir allesamt im Eingangsbereich der Bar. Du unterhältst dich mit dem Bartträger, der irgendwas von seinem hier rumschwirrenden Exfreund redet. Ich komme währenddessen auf der Bank gegenüber, weiter in den Genuss der weiblichen Küsse des Capträgers. Würde ich mich an dieser Stelle fragen, was ich hier eigentlich mache, so wurde dieses, für diese Frage zuständige Hirnareal, spätestens vom letzten „Mexikaner“ ausgestellt.

Aus dem Augenwinkel bekomme ich noch mit, dass sich der Bart einen Drink holt und besagter Exfreund nun vor dir steht und Interesse anmeldet. Deine Erfahrungen mit Männern hielten sich bislang, bis auf einen Kurzvorfall in einem Schwimmbad, eher in Grenzen. Aber dieses Exemplar sieht ganz schnuckelig aus, und wenn du schonmal hier bist?! 😉 So sitzen wir an unserem letzten Date des Jahres also in einer Schwulenbar und knutschen mit homosexuellen Männern herum.

Irgendwann nimmst du mich an die Hand und setzt mich in dein Auto. Als Mexikaner und Orgasmus „aussteigen“ wollen hältst du für mich am Straßenrand. Bei dir angekommen, essen wir zur Neutralisierung, ein Stück Käse, sehen uns fragend an und schlafen nebeneinander ein.

Als ich aufwache, fühle ich mich schrecklich. Nicht körperlich. Es ist eher einer dieser Momente in denen ich nicht weiß, wo ich hingehöre. Als ich dich ansehe, lächelst du. Wir haben Sex, wilden Sex. Er ist gut, dient jedoch für mich gerade eher der Betäubung. Wenn es mir nicht gut ging, war dies schon immer mein Mittel der ersten Wahl. Nach dem letzten Sommer hatte ich mir allerdings davon abgeschworen. Ich weiß nicht ob du mitbekommst, was gerade in mir vorgeht.

Nach einem intensiven Vor- und Nachmittag entschließen wir uns, mit zwei Autos in die Stadt zu fahren und dort etwas zu essen. Ich fahre gesittet hinter dir her, doch als wir die Autobahn erreichen, übernimmt mein Fluchtreflex die Oberhand und tritt auf das Gaspedal. Ich habe mir, nach dem Theater mit Malte, eine offene Beziehung gewünscht, doch so wie es nun ist, fehlt mir gerade der Halt. Das leere Gefühl im Bauch ist wieder da. Ich denke drüber nach einfach nach Hause zu fahren, doch will nicht jetzt schon aufgeben. Aus diesem Grund finde ich mich, eine halbe Stunde später, mit dir in einem mittelklassigen Burger-Restaurant, bei einem mittelklassigen Gespräch über Gott und die Welt, wieder.

Wir beide versuchen schwere Themen zu vermeiden und reden stattdessen über Dinge, von denen wir keine Ahnung haben, und die uns nicht interessieren. Zwischen Süßkartoffelpommes und Avocadodip bricht es dann aus mir heraus: „Sorry, aber du hast mich gestern kalt erwischt.“ Du nickst zustimmend: „ich weiß.“ „Ich finde die Idee, einer offenen Beziehung toll“, fahre ich fort. „Mir gefällt die Vorstellung, dass man sich nicht einschränkt und alles erzählt. Doch ich finde, wenn man eine offene Beziehung führt, muss man überhaupt erst einmal eine Beziehung haben. Wir kennen uns kaum. Ich brauche das Gefühl, dir wichtig zu sein, wichtiger als Abenteuer nebenbei. Ich bin noch nicht ganz über die Trennungen von Malte und Andre hinweg und nun kommt dieser Fluchtdrang hoch. „Bitte geh nicht“, sagst du und schaust entschlossen. „Ich weiß nicht, wie man so etwas richtig macht. Ich kannte jahrelang nur das Gegenteil. Aber ich möchte es mit dir versuchen und dir zeigen, dass du mir wichtig bist. Ich möchte dieses Jahr hinter mich bringen und mit dir frisch ins Neue starten.“ Dies sagst du sehr überzeugend. Und plötzlich schmecken die Burger doch gar nicht mehr so schlecht.

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