Offene Polyanarchie

Lasst uns mal über Definitionen sprechen. Warum? Na weil sie wichtig sind. Sie geben einer Thematik einen Namen, grenzen ab und lassen verstehen. Doch verwirren Definitionen nicht nur, wenn sich jeder seine eigene Interpretation schafft bzw. verschiedene Farben plötzlich denselben Namen tragen?

Mein Statement dazu ist ganz klar „Ach ich weiß es doch auch nicht“. In der Komplexität der Welt braucht der Mensch Schubladen um wenigstens ansatzweise zu verstehen. [1]Hört sich nach einem wahnsinnig geistreichen Zitat an, stammt aber von mir – just in diesem Moment. Ich bin auch ganz erstaunt Doch von jemand anderes anhand einer simplen Definition in Schublade 17C gesteckt zu werden, kann ganz schön frustrierend und einengend sein. Zudem waren Schubladen, Luftschlösser und Sardinenbüchsen noch nie Orte in denen der Mensch lange verweilen konnte.

Je nach Situation, Stimmung und Windrichtung bezeichne ich die Form, wie du, Tom und ich leben, als offene Beziehung, nicht-monogame Beziehung, Polybeziehung mit Abstufungen oder als offenen Beziehung mit einem Hang zur Polyamorie. Während ich mich als polyamor und Hippie der Neuzeit vorstelle, erzählst du, Tom du lebst in einer offenen Beziehung, allerdings nicht polyamor so wie man es kennt. Doch wie kennt man es eigentlich?

Nach meinem Gefühl muss man nicht allem einen Namen geben. Doch wenn nichts einen Namen trägt, reden wir Menschen gerne aneinander vorbei, interpretieren und / oder dichten hinzu. Eine Definition kann eingrenzen / abgrenzen und vor allem dabei helfen, nicht ganz den Überblick und den Kopf zu verlieren. Aber dann sind wir wieder bei der Problematik, dass jeder – wie in diesem Fall Beziehungsformen – ein bisschen anders definiert. Ich versuche daher erstmal nur meinen Kopf zu entwirren und meine Sicht in Worte zu fassen. Vielleicht ist es eine Hilfestellung / Denkanstoß für den eifrigen Leser. Wikipedia tauglich wird das Ganze aber sicherlich nicht. [2]Wer möchte, kann mein ganzes Pamphlet zerreißen, aber bitte nicht zu laut 😉

Aber fangen wir mal von vorne an:

Ich schreibe gerne. Immer so wie es zeitlich gerade passt, über das was mich gerade bewegt. Gerade habe ich wieder Lust zu schreiben. Über mich, dich, uns, unsere Art der Beziehung, unsere Begegnungen und alles was da irgendwie mit zu tun hat. Wer waren wir nochmal? Ich nenne mich hier Isabel, die (größtenteils) extravertierte Möchtegernkünstlerin und du bist Tom, der (größtenteils) introvertierte Läufer. [3]Läufer = Person die gerne läuft – nicht vor etwas weg, sondern als sportliche Betätigung z.B. innerhalb eines Halbmarathons Wir leben mit unsere mittlerweile 2,5 Jahre alten Tochter in zwei Wohnungen auf einer Etage in, um oder bei der schönsten Großstadt im Norden.

Du, Tom und ich leben von Beginn an nicht monogam. Als wir uns begegneten, gaben wir dem Ganzen keinen Namen, wussten nicht wohin sich die Verbindung entwickeln würde. Wir wussten nur, dass wir gerne abseits monogamer Strukturen leben möchte, welche ein „nur du und ich bis das der Tod“ implizieren. [4]Natürlich kann Monogamie und Monogamie auch verschieden gelebt und interpretiert werden

Das Wichtigste meiner Meinung nach ist das Reden – kommunizieren, wertschätzend. Wenn Menschen eine tiefere Verbindung miteinander eingehen (oder diese verändern) möchten, egal wie sie diese nennen und ob sie zu zweit sind oder zu dritt sind, hilft es sich gegenseitig die eigene Wahrnehmung zu erzählen. Was bedeutet für dich z.B. Treue, was bedeutet es für mich? Die Welt der Beziehungen kennt so viele Begriffe dessen Bedeutung wir als gegeben ansehen, viele Personen diese jedoch unterschiedlich definieren.

Was ist Liebe für mich/dich?

Was ist eine Beziehung / Partnerschaft für mich /dich?

Was ist Intimität für mich/ dich?

Was ist guter Sex für mich / dich?

Was ist Freiheit? Was ist Autonomie für mich / dich?

Was ist Eifersucht für mich/ dich?

Was ist Monogamie für mich / dich?

Was ist eine offene Beziehung für mich / dich?

Was ist Polyamorie für mich / dich?

Was ist Beziehungsanarchie für mich / dich?

Dies ist natürlich nur ein kleiner Teil an Begriffen denen man begegnet. Allgemein hilft es nachzufragen, verstehen zu wollen aber nicht zu werten. Wahrnehmungen lassen sich nicht aberkennen. Wenn die Sonne in meiner Wahrnehmung grün ist, ist sie für mich grün. Du kannst mir erklären, warum deine gelb ist. Diskutieren oder versuchen den anderen umzustimmen, geht allerdings nicht selten nach hinten los. Es gilt herauszufinden wo Übereinstimmungen sind. Wo kann man einen Mittelweg finden? Wo gehen die Ansichten ggf. zu sehr auseinander. [5]Hier sei zu erwähnen das Ansichten sich auch mit der Zeit verändern, und nicht mehr zueinander passen können. Dadurch verändern sich Verbindungen oder enden sogar. Das ist auch okay. Unendlich … Continue reading

Du Tom und ich redeten als wir uns kennenlernten viel [6]und tun dies natürlich auch jetzt noch, zeigten uns gegenseitig unsere Wahrnehmung, Sichtweisen und Werteinstellung. Wir gaben uns nach und nach Einblick in unseren Kopf und stellten fest, dass wir in sehr ähnliche Richtungen blicken. Natürlich gab es auch Ansichten, die für den einen selbstverständlich sind, für den anderen jedoch nicht, dann erklärten wir ruhig die Situation – jeder in seiner Sicht und ohne die Sicht des anderen bewerten.

Wenn es kompliziert wurde, schrieben wir, reflektierten und entwirrten unseren Kopf. Vor zwei Jahren stellten wir die gesammelten Texte nach und nach Online. Du und ich schrieben u.a. was für uns eine offene Beziehung ist und warum wir diese führen. In dem Burgerschuppen, in welchem wir uns das erste Mal trafen, stellten wir eine Art Rahmen für unsere Beziehungsform auf. [7] https://www.offenerzweier.de/kontrolliert-unkontrolliert-brauchen-wir-einen-rahmen-dezember-2019-2/

Zitat:„Polyamorie übersteigt aktuell unsere „Herzkapazität und man hat Sorge sich zu verlaufen. Demnach suchen wir nicht konkret danach. Ggf. kommt das Thema nochmal auf wenn die Beziehung noch gefestigter ist.“

Bevor ich dich, Tom 2018 kennenlernte hatte ich über mehrere Jahre eine Verbindung zu zwei Männern parallel. Ich war – zumindest für uns drei – offiziell mit beiden zusammen. Die beiden Männer kannten sich grob, mehr aber auch nicht. Ich definierte diese Beziehung für mich als polyamor, weil ich vor allem zeitlich versuchte gleichberechtigt auf die beiden Männer einzugehen. Ich scheiterte und hatte das Gefühl, mehr zu wollen als zu können. Im nachträglichen Reflektionsprozess entschied ich, dass Polyamorie nichts für mich sei. Ich erzählte dir davon und auch du, Tom warst der Meinung, dass eine polyamore Verbindung, in der mehrere Menschen emotional und zeitlich gleichberechtigt zusammen sind und ggf zusammen leben, auch dich überfordern würde. Wenn wir an Polyamorie dachten, dachten wir überspitzt geschrieben an drei, vier oder fünf Personen mit langen Haaren und bunten Gewändern, die zusammen auf einem Hühnerhof leben, lieben und ihre Kinder erziehen.

Mittlerweile sind wir im realen Leben, als auch in der interaktiven Welt den verschiedensten Konstellationen begegnet und haben verstanden, dass Polyamorie und Polyamorie vollkommen individuell gelebt werden kann. Genauso ist es mit Verbindungen, die den Begriff „offene Beziehung“, „Monogame Beziehung“ oder „Beziehungsanarchie“ tragen.

Du und ich leben offen, aufgeschlossen mit der Möglichkeit auch anderen Personen körperlich zu begegnen. Das Bedürfnis, die emotionale Ebene nicht von der körperlichen abzugrenzen, kristallisierte sich nach und nach heraus. Du und ich sind nicht automatisch auf Sex mit anderen aus. Wir haben Lust auf Momente, Begegnungen. Wir haben Lust zu fühlen und zu spüren – auch mit dem Herzen. Wir definieren uns nach wie vor als Hauptbeziehung, haben zeitlich und emotional den größten Bezug zueinander. Dennoch können wir auch tiefe Emotionen anderen gegenüber haben, sprich uns verlieben. Allerdings begegnen wir diesen Personen aktuell mit einer zeitlichen und räumlichen Abstufung, was die Verbindungen emotional nicht weniger wichtig macht. Nach wie vor, sind wir uns jedoch einig, dass uns gleichwertige Partnerschaften, mit denen man gemeinsam ein Haushalt und die Kindererziehung teilt, derzeit überfordern würde. Wie die Zukunft aber aussieht, wissen wir nicht und wollen hiervor auch keinen erzwungenen Riegel schieben.

Aber nochmal zurück zu den Definitionen. In meiner Wahrnehmung gehören alle romantischen Gefühle, die man zu mehreren Personen parallel empfindet, zur Polyamorie. Wie oft man sich sieht, miteinander spricht oder zusammen wohnt ist davon unabhängig. Ausgestaltet kann das Ganze dann total unterschiedlich sein. So gibt es Konstellationen wie mit unseren „Nebenpartnern“, die wir regelmäßig aber nicht täglich / wöchentlich sehen. Wiederum gibt es Konstellationen, in denen eine Person mit zwei/ drei anderen auf gleicher Ebene eine romantische Verbindung pflegt, diese aber nicht untereinander. Andere wiederum leben in einer dreier/vierer/ fünfer Beziehung etc. in welcher jeder jeden romantisch liebt.  Das Sexuelle steht dann wiederum auf einem ganz anderen Blatt. So kann polyamore Liebe natürlich auch asexuell sein.

Das Wort „offen“ impliziert für mich, neben offen = aufgeschlossen zu sein, dass die Möglichkeit besteht, weiteren Personen sexuell und / oder emotional zu begegnen.

Im Frühling bin ich einer Tätowierern begegnet, die mir sagte, dass ein Begriff für einen passend sei, wenn man sich damit wohlfühle. Ich finde das Wort Poly gar nicht schlecht. Es klingt weich, bunt und ich kleide mich gerne damit. Du Tom, fühlst dich diesem Begriff nicht ganz so zugehörig, weil du es weiterhin mit der Hippiekommune verbindest. Aber das ist auch gar nicht wichtig. Wichtig ist, dass wir in eine ähnliche Richtung schauen und kontinuierlich reden.

Wohl fühle ich mich auch mit dem Begriff Nebenpartner für den Mann, den ich in regelmäßigen Wochenabständen treffe. Wir teilen keinen Alltag, keine wichtigen Entscheidungen oder Verantwortungen miteinander, erleben den Moment zusammen allerdings so intensiv, dass der Begriff „Freundschaft+“ dem nicht gerecht werden würde. Wenn sich das Wort Partnerschaft gut anfühlt, ist es in meiner Wahrnehmung auch eine, egal was Umstehende dazu sagen.

Es kommt immer mal wieder vor, dass ich unsere Art zu leben und lieben Personen, die ich frisch kennenlerne erkläre. Es ist nicht weil ich mich rechtfertigen muss, sondern weil sie offene und / oder polyamore Beziehungen so gar nicht kennen.. Es stellen sich Fragen, es kommen Klischees auf und vorsichtig formulierte Vorurteile. Letztes Frühjahr traf ich mich mit einer jungen Frau zum Date in einem Park. Als sie mir von ihrer Form der Beziehungsführung, der Beziehungsanarchie erzählte, war ich plötzlich die ahnungslosen Kritikerin. Sie schilderte mir vertrauensvoll ihre Art zu leben und lieben. Anstatt richtig zuzuhören, diskutierte ich das Beziehungsmodell indem es, Achtung Vorurteil: „keine richtige Beziehung gibt und jeder macht was er möchte ohne Rücksicht auf die anderen „, mit mir selber in Gedanken. Wie automatisch waren die Worte “ für mich wär das nichts / ich könnte das nicht“ in meinem Kopf. Es sind jene Sätze, welche ich selber immer wieder höre, wenn ich von mir / uns erzähle. Sie bringen mich zur Weißglut, weil es überhaupt nicht darum geht, dass die andere Person dieses Konzept für sich annimmt. Es geht lediglich darum auch andere Lebensweisen kennenzulernen, zu verstehen und anzuerkennen. Normal sollte nicht das Gleiche sondern das Individuelle sein!

In der Vergangenheit beschäftigte ich mich viel mit den verschiedenen Ausprägungen von offen / nicht monogamen Beziehungen und Polyamorie. Ich las Bücher, hörte Podcast und durchstöberte Blogs vor allem weil es mich selber betraf. Da ich den Begriff „Anarchie“ mit Chaos und Achtlosigkeit verband, schüttelte ich bei Beziehungsanarchie automatisch den Kopf. Damit lege ich die gleiche Verhaltensweise an den Tag, welche ich selber verurteile. Ich male mir mein eigenes Bild anstatt, zuzuhören und versuchen zu verstehen. Wann mir das bewusst geworden ist? Jetzt, in diesem Augenblick, in dem ich diesen Text schreibe! [8]Womit sich einmal mehr der Grund zeigt, wieso ich schreibe Nebenbei habe ich ein bisschen recherchiert und habe versucht möglichst objektiv zu sein. Ich bin auf einen Bericht gestoßen, indem es heißt dass in der Beziehungsanarchie alle Beziehungen als individuell angesehen werden und somit auch nicht zwischen Freundschaft und Liebesbeziehung unterschieden wird – eine Vorstellung die ich eigentlich ganz schön finde. Selbstverständlich war das nur an der Oberfläche gekratzt und natürlich ist auch die Monogamie mehr als „nur du und ich bis dass der Tod uns“. Wenn ich das nächste Mal Personen begegne, die mir von ihrer Lebensweise erzählen möchten, werde ich zuhören und nachfragen anstatt in meinem Kopf zu widersprechen!

Definitionen sind aus meiner Wahrnehmung heraus nach wichtig, um eine grobe Vorstellung zu erhalten worum es geht und nicht gänzlich den Überblick zu verlieren. Selbsterklärend sind Begriffe wie „Offene Beziehung“ , „Polyamorie“, „Beziehungsanarchie“ als auch „Monogamie“ nicht, da diese ganz individuell gelebt werden wollen / können und sollten. Deshalb lebt so, wie ihr es wollt, nennt es so wie ihr es wollt, erklärt was ihr meint und hört zu wenn andere euch von ihrer Perspektive, ihrer Welt erzählen – bunt und frei!

References

References
1 Hört sich nach einem wahnsinnig geistreichen Zitat an, stammt aber von mir – just in diesem Moment. Ich bin auch ganz erstaunt
2 Wer möchte, kann mein ganzes Pamphlet zerreißen, aber bitte nicht zu laut 😉
3 Läufer = Person die gerne läuft – nicht vor etwas weg, sondern als sportliche Betätigung z.B. innerhalb eines Halbmarathons
4 Natürlich kann Monogamie und Monogamie auch verschieden gelebt und interpretiert werden
5 Hier sei zu erwähnen das Ansichten sich auch mit der Zeit verändern, und nicht mehr zueinander passen können. Dadurch verändern sich Verbindungen oder enden sogar. Das ist auch okay. Unendlich ist meistens nur die Unendlichkeit
6 und tun dies natürlich auch jetzt noch
7 https://www.offenerzweier.de/kontrolliert-unkontrolliert-brauchen-wir-einen-rahmen-dezember-2019-2/
8 Womit sich einmal mehr der Grund zeigt, wieso ich schreibe
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